Landgräfin Anna von Hessen
Von Philipp Losch
Fast unbeachtet ist während des großen Krieges eine fürstliche Frau
aus dem Leben geschieden, deren eigenartige Lebensschicksale in wenigen
kurzen Zeitungsnotizen meist katholischer Blätter nur flüchtig und
oft nicht richtig gestreift worden sind: die greise Landgräfin Anna von Hessen.
Ihre Wiege stand zu Berlin am Wilhelmsplatz im Palais des Prinzen Karl
von Preußen, als dessen jüngstes Kind sie am 17. Mai 1836 das
Licht der Welt erblickte. Die Kanonen donnerten wie gewöhnlich bei der
Geburt einer Prinzessin, aber da gerade König Friedrich Wilhelm III. von
einer großen Heerschau des Gardekorps zu Ehren der Herzöge von Orleans
und Nemours durch die Straßen Berlins zurückritt, so wurde das Salut⹀
schießen von den Berlinern kaum beachtet, noch richtig verstanden. In der
heiligen Taufe, die der evangelische Bischof Dr. Eylert am 4. Juni vollzog,
erhielt die neugeborene Prinzessin die Namen Marie Anna Friederike.
Nicht weniger als 25 Paten hatte das junge Fürstenkind, von denen zehn
(König Friedrich Wilhelm III., die Königin der Niederlande, der preußische
Kronprinz und Gemahlin, die Kurfürstin Auguste von Hessen, Prinz Wil⹀
helm von Preußen und Gemahlin, die Erbgroßherzogin von Schwerin und
die Fürstin v. Liegnitz, Gemahlin des Königs) bei der Feier zugegen waren.
Der Vater der Prinzessin war der jüngste Sohn Friedrich Wilhelms III.
und der Königin Luise, ihre Mutter Marie von Sachsen⹀ Weimar,
die ältere Schwester der späteren Kaiserin Augusta. Deren Kinder, der
spätere Kaiser Friedrich und die spätere Großherzogin Luise von Baden,
gehörten zu ihren Jugendgespielen. Mit ihnen und zusammen mit ihren
älteren Geschwistern, dem Prinzen Friedrich Karl (geb. 1828) und der
Prinzessin Luise (geb. 1829), verlebte Prinzessin Anna ihre Jugend in
Berlin und in dem herrlich gelegenen Schloß Klein⹀Glienicke am Ufer der
Havel, dessen Park Schinkel mit italienisch und griechisch anmutenden Ge⹀
bäuden und Monumenten geziert hatte. Trotz seines hohen militärischen
Ranges gehörten die Neigungen des Prinzen Karl weniger dem Soldaten⹀
tum als der Kunst und dem Sport, und seine in Glienicke untergebrachten
Kunst⹀ und Waffensammlungen zeugten von seinem Geschmack und seinem
Sammeleifer. Er war auch der Veranstalter der großen Parforcejagden im
Grunewald, an denen auch seine Kinder als tüchtige Reiter früh teilnehmen
mußten. In Weimar, wohin die Kinder mit ihrer Mutter öfters kamen,
trafen sie ihre Großmutter, die geistreiche alte Großherzogin Maria Paw⹀
lowna, und zehrten von den klassisch-literarischen Erinnerungen, die von
der hohen Freundin Goethes dort noch sorgsam gepflegt wurden.
Obwohl das jüngste Kind des Prinzen Karl, war Prinzessin Anna
doch die erste, die das väterliche Haus verließ, um sich, kaum 17 Jahre
alt, zu verheiraten. Es heißt, sie habe eine besondere Neigung zu ihrem
Vetter Friedrich Wilhelm, dem späteren Kaiser Friedrich, gefaßt, die dieser
auch erwidert habe, aber die nahe Verwandtschaft verbot eine eheliche Ver⹀