Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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der Sohn des Bauern ein Pfarrer, der des Hand 
werksmannes ein Handelsherr, der des reichen Mannes 
ein hoher Staatsbeamter oder gar ein Genie werden. 
Ja, wo wirkliche Anlagen vorhanden jtttb,. da mag 
einem solchen Wunsche nachgegeben werden, im Allge 
meinen jedoch sollten die Leute nicht vergessen, daß 
ein tüchtiger, regsamer Bauer zehnmal besser, als 
ein einfältiger Gelehrter, und ein ehrsamer, geschickter 
Handwerksmann dem Staate zehnmal nützlicher, als 
ein beschränkter Kaufmann ist. Aber so sind die 
1 Menschen, die Eitelkeit giebt es ihnen ein, und mit 
der Liebe wird's entschuldigt. 
Der Bauer Veit, ein schlichter, verständiger 
Mann, hatte das wohl erkannt, als er seinem reichen 
! Nachbar eine derbe Antwort gab. Der Nachbar 
hatte nämlich einen Sohn, der sollte nun platterdings, 
! obgleich es in seinem Oberstübchen ziemlich leer und 
s armselig aussah, ein hochgelahrter Herr, wohl gar 
- ein Consistorialrath in der Residenz werden. Des 
halb war er auch schon auf die Universität gezogen. 
Da erzählte eines Morgens der Nachbar dem Veit, 
als sie über die Gartenhecke zusammen plauderten: 
„Nun, Nachbar, mein Hans hat jetzt schon auf zwei 
Universitäten gestudirt." — „So?" erwiederte Veit. 
„Run dem Jungen wird's gehen, wie drüben beim 
Wirth dem Kalbe, das an zwei Kühen saugte." — 
: „Wie ist es denn dem gegangen?" fragte der Nach- 
l bar. — „Ei", sagte Veit, „es ist ein recht großes 
° Kalb daraus geworden." Das war ein Hieb, der 
: saß. Veit hätte auch sagen können: Aus dem Kraut 
; wird kein Baum, und wenn du noch so viel Mist 
j zufährst. Ferner: Gleicher Erde ist auch gut wohnen. 
Der König Friedrich Wilhelm I. von 
Preußen und der Buchbinder. 
keine Unordnungen, von welchen er dem Könige hätte 
Meldung machen können. Nach einiger Zeit sah ihn 
der König auf der Straße, erkannte ihn sogleich, und 
rief ihn heran. Als er ihm Vorwürfe machte, daß 
er ihm nichts von der schlechten Wirthschaft des 
Magistrats berichtet habe, entschuldigte sich Reichardt 
damit, daß er, seitdem er mit dazu gehöre, ganz 
anderer Ansicht geworden sei. 
„Ihr seid alle Schelme," rief ihm der König 
zu; „wenn Ihr nicht mitregiert, so räsonnirt ihr, 
und wenn ihr dann mitregiert, so macht Jhr's nicht 
besser als die Andern." 
So war dieser Buchbinder curirt, und auf seinem 
Rathsstuhle zu der Einsicht gekommen, daß er ruhig 
bei seinem Gewerbe hätte bleiben können, ohne daß 
Land und Leute Schaden genommen hätten. 
Der Trunk über den Henkeft 
In dem Zuge der Preußen nach Hessen (1850) 
kam ein Soldat zu einem Bauer in's Quartier und 
forderte sogleich beim Eintritt einen Trunk Wasser. 
Da die Umgebung nicht sehr sauber aussah, fragte 
er, ob sie auch ein Glas hätten? „Ja wohl!" sagte 
die alte Bäuerin, „aber da trinke nur ich daraus; 
der Herr aber soll's auch haben." Der Preuße be 
trachtete nun bald die Alte, bald das ihm dargebotene 
Glas. „Wenn ich nur wüßte, wo diese breiten, 
schmuzigen Lippen zu trinken pflegten," dachte er, und 
entschloß sich endlich, über den Henkel zu trinken, in 
der festen Ueberzeugung, daß die Alte ihre Lippen 
an diesen Ort nie gebracht hätte. Kaum aber hatte 
er getrunken, so lachte die Bäuerin, daß sie sich die 
Seiten hielt und rief: „Der Herr trinkt gerade wie 
ich, immer über den Henkel." 
Eines Tages ging den König in Berlin ein 
dortiger Buchbinder, Reichardt, an und verklagte 
die städtische Obrigkeit, bei welcher er seit mehreren 
Jahren einen Proceß anhängig habe, welchen er aber 
nicht zu Ende bringen könne, weil seine Feinde unter 
den Rathsherren ihm das Recht vorenthielten. Zum 
Beweise führte er mehrere in's Einzelne gehende That 
sachen an. 
Der König, ein wunderlicher Herr, welcher auch 
nicht zum Besten auf den Berliner Magistrat zu sprechen 
war, sagte zu dem Buchbinder: „Du scheinst mir ein 
vernünftiger Kerl zu sein und es soll Dir geholfen 
werden. Da Du aber auch so gute Kenntnisse von 
der Wirthschaft des Magistrats besitzest, so sollst 
Du mir von Zeit zu Zeit Nachricht- davon geben, 
und dann wollen wir ihn schon kriegen. Ich mache 
Dich hiermit zum Rathsherrn, und werde dem 
Magistrate deshalb Befehl zugehen lassend 
Und richtig. Mein Buchbinder wurde eingeführt, 
wohnte den Sitzungen regelmäßig bei, bemerkte jedoch 
Von einem dreifachen Trunk. 
Ein dreifacher Trunk ist erlaubt: der Nothtrunk, 
der Dir den Durst löscht; der Gesundtrunk, davon 
Paulus sagt: „Brauche ein wenig Weins um Deines 
Magens willen"; und der Freudentrunk, davon 
Salomo spricht: „Trinke Deinen Wein mit gutem 
Muth!" — Jeder Trunk aber, der darüber geschieht, 
beschwert das Herz. Setze daher die Trinklust nie 
auf den Stuhl der Gewohnheit, oder gar auf den 
Stuhl der Ehren, sonst machst Du sie zur Mutter 
des Lasters, und dieses Kind verschlingt Dich sammt 
der Mutter. 
Fabel aus dem Talmud. 
Als Noah den ersten Weinstock gepflanzt hatte, 
kam der Satan herbei und düngte ihn mit dem 
Blute des Lammes, der Löwin und des Schweines. 
Das Blut wurde umgewandelt in den Saft der Trauben. 
Daher kommt es, daß wer wenig trinkt, sanft wird
	        
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