Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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Wahrlich, auf diese Frage müssen wir kleinmüthig 
zusammensinken, wenn wir sie uns ernstlich beant 
worten wollen; denn die Antwort lehrt uns, daß wir 
mit all' unsern Erfindungen weit, weit zurückstehen 
gegen den großen Schatz unübertrefflicher Erfindungen, 
mit welchem wir schon die Welt betreten. 
Als vor langer, langer Zeit ein sinnender Mensch 
den Blasebalg erfunden hatte, da war er sicherlich 
so überaus weise in seinen Augen, daß er mit Stolz 
oder Mitleid auf die ganze Menschheit herabsah, die 
vor ihm gelebt hatte, und er rief gewiß jubelnd aus: 
ich habe Neues erschaffen, Niedagewesenes erfunden! 
Wie, wenn ihm Jemand gesagt hätte: »Thörichtes 
Menschenkind, was du da erfunden hast, kennst du 
selber nicht! Jahrtausende nach dir wird die Mensch 
heit den von dir erfundenen Blasebalg benutzen, ohne 
zu wissen, welchen Dienst, und warum er ihr diesen 
geleistet. Erst spät, sehr spät wird man dahinter 
kommen, daß die Luft Sauerstoff in sich habe, daß 
dieser Sauerstoff eine chemische Verbindung eingehe 
mit der glühenden Kohle, daß diese chemische Ver 
bindung es eben ist, die man Verbrennung nennt, 
und erst dann, wenn die Menschheit zu dieser Ent 
deckung kommt, wird sie wissen, was du nicht weißt, 
wird sie wissen, was ein Blasebalg eigentlich bedeutet!» 
Wie, sagen wir, wenn Jemand dem Erfinder vor 
Jahrtausenden dies hätte zurufen können; gewiß, 
der Erfinder würde ihn nicht verstanden, oder würde 
schmerzlich eingesehen haben, daß das, was er ein 
Neues nennt, erst sehr, sehr alt werden muß, um 
eine wirlliche, verstandene Erfindung genannt werden 
zu können. 
Wie aber gar, wenn Jemand dem Erfinder einen 
Blick in die ihm sehr fern liegende Zukunft hätte 
öffnen können und hätte ihm zu zeigen vermocht, 
daß nach der Entdeckung des Sauerstoffs noch ein 
halbes Jahrhundert vergehen wird, bis ein Natur 
forscher dahinter kommt, zu zeigen, daß jeder Mensch 
einen Blasebalg mit auf die Welt bringt; daß die 
Lungen, wenn sie Athem schöpfen, nichts anderes thun, 
als daß sie eine Verbrennung der Kohle des Blutes 
bewirken, daß sie also den Dienst eines Blasebalgs 
in nie geahntein, ausgezeichnetstem Maße versehen; — 
wahrlich, es würde sich jener Erfinder haben sagen 
müssen: Nein! ich habe nichts Neues erfunden; ich 
habe nur ohne Einsicht in den wahren Zusammenhang 
ein äußerst kleines, unbedeutendes Theilchen einer 
merkwürdigen Maschinerie hergestellt, mit der ich, 
ohne es zu wissen, schon in die Welt gekommen bin, 
einer Maschinerie, ohne die ich nicht einen Augenblick 
zu leben vermocht hätte, einer Maschinerie, die alt, 
sehr alt ist! 
Und hätte nun dieser unbekannte Erfinder, der 
vor Jahrtausenden gelebt hat, Ursache also zu 
sprechen? — 
Ich sage: Nein! Ich behaupte, daß die erfin 
dungsstolze Menschheit vielleicht noch nicht eine einzige 
Erfindung gemacht hat, von der nicht nachgewiesen 
werden kann, daß sie in weit vorzüglicherem, unver 
gleichlich vollendeterem Maße schon mit dem ersten 
Menschen auf die Welt gekommen ist. 
Ein Blasebalg ist eine sehr unbedeutende Erfindung, 
zumal jetzt, wo man andere, weit vortrefflichere 
Gebläse (die s. g. rotirenden) eingerichtet hat. Eine 
menschliche Lunge aber ist, wie die Wissenschaft der 
neuesten Zeit erst gelehrt hat, mehr, weit mehr noch 
als ein Gebläse; sie ist zugleich ein Heizapparats ein 
Filtrirapparat und eine chemische Fabrik und ist so 
wunderbar gebaut, daß man durch Rechnung Folgendes 
feststellen kann: 
Wenn ein vorzüglicher Mechaniker durch eine 
Maschinerie all' diejenigen Arbeiten verrichten lassen 
soll, die eine Lunge während der Lebensdauer eines 
Menschen verrichtet, so wird er mindestens einen 
Raum gebrauchen, in welchem zur Noth drei Familien 
leben können; dabei wird er Kessel, Räder, Stangen, 
Hebel, Zangen, Schrauben, Zapfen, Kurbeln, Riemen 
und Nägel gebrauchen, mit denen man eine kleine 
Welt zertrümmern kann, und zu all' dem wird er 
noch einen Maschinenmeister hinstellen müssen, der 
die Maschinerie im Gang erhält. 
Die Lunge dagegen, die in gesundem Zustand all 
das untadelhaft arbeitet, hat Platz in einem Raum, 
den man mit zwei Händen bedeckt, hat nicht eM 
einzig Rädchen, ja nicht einmal ein Nägelchen von 
einer Maschine und ist dabei so fleißig, daß sie ein 
ganzes Menschenleben hindurch, mag es schlafen oder 
wachen, rastlos fortarbeitet. 
Zu den alten Erfindungen der Menschen gehöre» 
auch die Pumpen, die wie unsere Straßenbrunnen 
Wasser aus der Tiefe aufsaugen und es durch eine 
Oeffnung in einem aufsteigenden Rohr ausfließe" 
lassen. Man nennt diese: Saug-Pumpen. Wen 
später erst wurde die Druck-Pumpe erfunden, die >» 
vielfach verbesserter Form jetzt als Feuer -Sprv 
bekannt ist; allein sie ist immer noch nicht so vollem 
det, daß man sie für unverbesserlich halten darf, un 
fortwährend kann man die geistvollsten Mechamke 
und Maschinenbauer mit der Aufgabe beschäftig
	        

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