Full text: Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen // Amtlicher Kalender für Kurhessen // Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1860-1873)

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Rath zu holen, erfuhr ich, daß in Wasungen, im 
Meiningenschen, eine Anzahl von Familien einen Con- 
tract mit einem Agenten abgeschlossen habe, um auf 
irgend eine Plantage in der Provinz San Paulo in 
Brasilien befördert zu werden. Die meiningische 
Regierung hatte die ganze Verhandlung erst erfahren, 
als schon alles abgemacht war — und was kann 
überhaupt irgend _ eine Regierung Privatcontracten 
gegenüber thun? Dennoch sollte doch wenigstens noch 
alles geschehen, um den gewagten Schritt, den diese 
Menschen thaten, so wenig gefahrvoll als möglich für 
sie zu machen. Ich hatte Gelegenheit, nach Wasun 
gen hinüber zu fahren und nicht allein mit den Leuten 
selber dort zu sprechen, sondern auch den Contract 
zu sehen, auf den allein hin sie ihr Vaterland ver 
lassen wollten. 
Wenn man dieses Schriftstück liest, so ist es in 
der That unglaublich, daß irgend ein mit Vernunft 
begabtes Wesen blödsinnig genug sein könnte, in 
einem solchen Wisch eine Garantie zu erblicken. Das 
aber ist die Geschichte aller in solcher Weise beför 
derter Auswanderer, daß sie sich toll und blind in 
das Geschirr legen; und wie ein Stier mit einem 
rothen Lappen gereizt und gelockt werden kann, so 
genügt für derartige Menschen ein beschriebenes Stück 
Papier — besonders wenn noch ein Siegel darauf 
klebt. Was darauf geschrieben ist, bleibt sich voll 
ständig gleich. — Es ist nöthig, das Schriftstück hier 
wortgetreu zu geben. Es lautet: 
"Verpflichtung 
des Landarbeiters: 
mit Familie, nämlich: 
gegen -Herrn Theodor Wille in Hamburg. 
Der Endesunterzeichnete, der die Passage für 
sich und die obenstehenden Familienglieder, nach 
unten stehender Specification mit 
vorgeschossen erhielt, verpflichtet sich, nicht nur 
Herrn Theodor Wille Hierselbst Vollmacht zu erthei 
len, vermittelst seines Hauses in Santos, für sich 
und seine Familie mit einem brasilianischen Plan 
tagenbesitzer Contract abzuschließen, zur Verdin 
gung seiner und seiner Familie Arbeitskräfte auf 
eine Colonie der Provinz San Paulo, sondern 
macht sich auch durch Unterzeichnung dieses Con- 
tracts (!!!) für sich und seine sämmtlichen Fami 
lienglieder anheischig, durch den Theilertrag ihrer 
Arbeit die vorgeschossene Passage und sonstige Kosten 
vorschüsse abzuverdienen, dergestalt, daß, da nach 
der Bestimmung derartiger Arbeitsverträge der Er 
trag der Arbeit zwischen Arbeiter und Brodherrn 
getheilt wird, der erhaltene Vorschuß von der ihm 
als Arbeiter zufallenden Hälfte des Ertrages der 
Arbeit in üblicher und herkömmlicher Abtragung 
zu ersetzen ist. 
Indem der Endesunterzeichnete durch seine Na 
mensunterschrift sich mit seinen Familiengliedern 
zur getreuen Erfüllung der contractlich eingegan 
genen Verpflichtung sich verbindlich macht (so daß 
einer für alle und alle für einen haften), ver 
pflichtet er sich ferner für sich unv seine Familien 
glieder , den gesetzlichen Befehlen seiner Brodherren 
oder deren bevollmächtigten Vertreter getreulich 
nachzukommen, und während der Dauer des Con- 
tracts seine ganze Zeit und Aufmerksam 
keit dem ihm übertragenen Dienste zu widmen. 
Hamburg, den . . ten 18 . . 
Passagegeld bis Santos 
für Erwachsene ...... 
- Kinder unter 10 Jahren ä • 
hier bezahlt.« 
Sollte man nun glauben, daß irgend ein Mensch, 
der nur einfach lesen und denken kann, einen solchen 
Contract unterschreiben würde? — Aber derartige 
Leute können auch nicht denken, und Thatsache ist, 
daß sich sämmtliche Familien auf das allein hin, was 
ihnen in diesem Papier geboten wurde, entschlossen, 
auszuwandern und ihr Gepäck voraus in die Welt 
hinein schickten. In diesem Contract verpflichteten 
sie sich zu allem, und ihnen selbst wurde auch nicht 
einmal das Nothdürftigste garantirt. Wer z. B. steht 
solchen Auswanderern dafür, die sich leichtsinniger 
Weise verpflichten, die ihnen geschenkte Ueberfahrt 
auf Theil abzuarbeiten, daß sie nicht einem sperrn 
überantwortet werden, der eben im Begriff ist, eine 
neue Plantage anzulegen? Geschähe das, so könnten 
sie Jahre lang Bäume und Büsche ausroden und 
dann Kaffeebäume pflanzen und nach fünf bis sechs 
Jahren furchtbarer Arbeit erst darauf rechnen, wirklich 
zu verdienen, denn daß sie für ihre Arbeit bezahlt 
werden sollen, steht nicht in dem Contract, nur einen 
Antheil an dem Verdienst sollen sie erhalten, und 
wenn nichts verdient wird, geht ihre Arbeit, ohne 
daß sie ihnen selbst den geringsten Nutzen bringt, 
ihren Gang fort. 
Selbst der peruanische Sclave — denn trotzdem 
daß in Peru die Sclaverei aufgehoben ist, existirt sie 
noch hie und da unter einer etwas veränderten Form " 
hat nur vier Tage in der Woche für seinen Herr» 
zu arbeiten, und drei sind für ihn selber. Diese 
armen Deutschen machen sich verbindlich, ".während
	        
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