Full text: V. Teil (5. Teil, 1889)

Stunde durch die Lawinen ganze Familien erdrückt, ganze Viehherden 
mit den Ställen zerschmettert, Wiesen und Gartenland bis auf die nackten 
Felsen abgehoben und weggeführt und ungeheure Wälder so zerstört, daß 
die Bäume teils in die Thäler gestürzt, teils zerknickt und zerschmettert 
übereinander lagen, wie die Halme auf dem Felde nach dem Hagelschlage. 
Sind doch in dem einzigen kleinen Lande Uri mit einen: Schlag zehn 
Menschen unter dem Schnee vergraben worden und nicht mehr auferstanden, 
gegen 30 Häuser und über 150 Heuställe zerstört worden und 359 Stück 
Vieh umgekommen. 
Viel schrecklicher noch als die Lawinen, aber zum Glück auch weit 
seltener, sind die sogenannten Erd- oder Bergfälle. Der fruchtbare 
Boden, welcher einen Bergabhang bedeckt, ruht auf einem Thon- oder 
Wurzellager, das von der Feuchtigkeit allmählich aufgelöst und unter 
graben wird. Treten nun ungewöhnlich starke Regengüsse ein, so löst sich 
die ganze obere Erdschicht mit Wäldern und Getreide von ihrer Grund 
feste und rutscht mit zunehmender, unwiderstehlicher Gewalt in das Thal; 
ja, zuweilen verbreitet der Erdfall seine Verheerungen über das Thal 
hinaus bis auf die gegenüber liegenden Bergabhänge. v. Tschudi. 
65. Die Gemse. 
Die Gemse bewohnt die höchsten Gebirge der Schweiz und Tirols. 
Dort trifft man sie oft in ganzen Rudeln an. Jedes Rudel hat eine 
Vorgeiß, welche die andern anführt. Die Vorgeiß ist sehr wachsam; be 
merkt sie etwas Verdächtiges, so pfeift sie durch die Nase, und sogleich 
ergreift das ganze Rudel die Flucht. Die Gemsen leben im Sommer 
von Alpenpflanzen und von frischen Trieben der Alpenrosen, Erlen, 
Weiden, Tannen und Fichten; im Herbst und Winter fressen sie Laub, 
dürres Gras und mancherlei Moose. Die Gemse hat eine schlanke Gestalt; 
ihre Füße sind mehr zum Springen als zum Laufen eingerichtet. Sie 
springt daher auch mit großer Leichtigkeit und Geschwindigkeit über die 
steilsten Felsen weg. Da die Gemsen ein sehr scharfes Gesicht, einen 
feinen Geruch und ein leises Gehör haben, so sind sie schwer zu jagen. 
Sobald sie die geringste Gefahr wittern, eilen sie wie der Blitz davon. 
Wenn daher ein Jäger Gemsen jagen will, so muß er sie abschleichen. 
Er dringt vorsichtig auf sie zu, kriecht auf Händen und Füßen über Schnee 
und spitzige Steine, damit sie ihn nicht sehen sollen. Beiuerken sie ihn 
aber doch, so muß er wie tot auf dem Bauche liegen bleiben. Endlich 
kriecht er auf dem glatten Eise weiter, zieht sein Hemd über den Rock, 
thut die Schuhe herunter, läßt Bergstock, Kappe und Pulverhorn zurück 
und kommt endlich den Gemsen so nahe, daß er die Krümmung der Hörner 
unterscheiden kann. Nun schleicht er hinter einen Felsen und reckt den Kopf 
hervor. Merken die Gemsen etwas, so darf er den Kopf nicht zurückziehen, 
sondern muß ihn stille halten. Endlich wählt er das fetteste und nächste 
Tier, legt an, schießt, trifft. Die Gemse stürzt nieder, während alle 
andern davoneilen. Der Jäger weidet das erlegte Tier aus, bindet die 
Beine desselben zusammen und nimmt es wie einen Tragkorb auf den 
Rücken. Das Fleisch der Gemse hat einen gewürzhaften Geschmack; aus 
dem Fette bereitet man allerlei Hausarzneien; und das Fell liefert ein 
sehr geschmeidiges Leder zu Hosen und Handschuhen. Iubitz.
	        
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