konnte er eine Nacht durchwachen. Einmal beklagte sich ein
Athener über die Mühseligkeiten einer Fussreise, die er eben gemacht
hatte. „Hat dir dein Sklave folgen können?“ fragte Sokrates
„Ja,“ antwortete jener. „Hat er etwas getragen?“ — „Ein grosses
Bündel.“ — „I)er muss recht müde sein.“ — „Nein, ich habe ihn
gleich wieder mit einem Aufträge fortgeschickt.“ — „Siehe,“ sagte
Sokrates, „du hast vor deinem Sklaven Vorzüge des Glücks; er
hat vor dir Vorzüge der Natur. Du bist reich und frei, er ist arm
und leibeigen, aber stark und gesund. Sage selbst, wer der (Glück
lichere ist! “
Von Natur heftig, erwarb sich Sokrates durch stete Achtsam
keit und Strenge gegen sich selbst einen edlen Gleichmut, den
nichts erschüttern konnte. Als ihm ein jähzorniger Mensch einen
Backenstreich gab, sagte er ruhig lächelnd: „Es ist doch recht
schade, dass man nicht voraussehen kann, wann es gut wäre, einen
Helm zu tragen.“ Einmal dankte ihm ein vornehmer Bürger nicht,
den er freundlich gegrüsst hatte. Seine jungen Freunde wurden
darüber unwillig. „Nicht doch,“ versetzte Sokrates, „ihr würdet
ja nicht zürnen, wenn mir einer begegnete, der hässlicher wäre als
ich. Was ereifert ihr euch also, dass dieser Mensch weniger
höflich ist als ich?“ Auch seine eigene Frau, die zänkische
Xanthippe, gab dem Weisen manchmal Gelegenheit, seine Geduld
zu bewähren. Eines Tages war sie bei sehr übler Laune und
schalt tüchtig auf ihn. Er aber blieb ganz gelassen. Endlich
ergriff das erzürnte Weib ein Becken mit Wasser und goss es
ihm nach. „Ich dachte es wohl,“ sagte Sokrates, „bei einem Donner
wetter bleibt ja der Hegen nicht aus.“ So zeigte sich Sokrates
nie mürrisch und verdriesslich; seine Bede war stets mit anmutigem
Scherz gewürzt. Wenn er aber von dem Wert und der Schön
heit der Jugend und von dem Walten der Gottheit sprach, dann
drangen seine erhabenen Worte tief in die Seele.
Seine Hauptbeschäftigung war es, Jünglinge zu unterrichten.
Er lehrte, ohne dafür Bezahlung zu fordern; wer Lust hatte, durfte
sich ihm als Schüler anschliessen. Einst scheute sich ein junger
Mensch, der gern seinen Unterricht genossen hätte, zu ihm zu
gehen, weil er sehr arm war. Sokrates, der seinen Wunsch merkte,
fragte ihn: „Warum scheust du dich vor mir?“ — ,,Weil ich
nichts habe, was ich dir geben könnte.“ — „Ei,“ versetzte Sokrates,
„schätzest du dich selbst so gering? Gibst du mir nicht sehr
viel, wenn du dich selbst mir gibst?“ Und der Jüngling wurde
sein eifrigster Schüler. Ein andermal begegnete Sokrates einem
schönen Jüngling von trefflichen Anlagen in einer engen Gasse.
Er hielt ihm seinen Stock vor, und der Jüngling blieb stehen.
„Sage mir doch,“ fragte Sokrates, „wo kauft man Mehl?“ — „Auf
dem Markte.“ — „Und Öl?“ — „Ebenda.“ — „Aber wo geht
man hin, um weise und gut zu werden ?“ Der Jüngling schwieg.
„Folge mir,“ fuhr Sokrates fort, „ich will es dir zeigen.“ Seit
dem schlossen beide den engsten Freundschaftsbund.
Mit inniger Liebe hingen die Schüler an dem weisen Lehrer.
Sie kannten keinen grösseren Genuss, als um ihn zu sein und ihm