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Julius. Was heißt Okuliren?
Nettelbeck. Du mußt wissen, lieber Julius, daß
grade das beste Obst nicht wieder so gute Baume aus
seinen Kernen hervorbringt, sondern eine viel schlechtere
Sorte. Man schalt daher vorsichtig von einem guten
Baume eine Knospe oder ein Auge, und befestigt es in
die aufgeritzte Rinde eines jungen, aus einem Kerne des
selben Obstes gezogenen Stammes, den man veredeln will,
worauf man dieselben guten Früchte erhält.
Charlotte. Nicht wahr, Vater Nettelbeck, wie
man bei dem Pfropfen einen ganzen Zweig von dem guten
Baume einsetzt?
Nettelbeck. Richtig. Ich mochte wohl ein Bürsch
chen von 5 oder 6 Jahren sein, als es hier bei uns, und
im Lande weit umher, eine so schrecklich knappe und
theure Zeit gab, daß viele Menschen vor Hunger starben:
denn der Scheffel Roggen galt den, damals beinahe für
unerschwinglich gehaltenen Preis von einem Thaler acht
Groschen. Es kamen viele arme Leute nach Colberg, die
ihre hungrigen Kinder auf Schiebkarren mit sich brachten,
um Korn von hier zu holen, weil man Getreideschiffe in
unserm Hafen erwartete, die der grausamen Noth steuern
sollten. Alle Straßen bei uns lagen voll von diesen un
glücklichen ausgehungerten Menschen. Meine Großmutter,
bei der ich erzogen ward, ließ täglich mehrere Körbe voll
Grünkohl in unserm Garten pflücken, kochte einen Kessel
voll nach dem andern für unsere verschmachtenden Gaste,
und mir ward das Ehrenämtchen zu Theil, ihnen diese
Speise in kleinen Schüsselchen, nebst einer Brotschnitte,
zuzutragen. Da rissen mir denn Alte und Junge meinen
Napf begierig aus der Hand, oder auch wohl unter ein-