lieber Geschichtsauffassung.
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Zu allen Zeiten und unter allen Völkern gibt es Menschen,
die mehr als andere nach dem Zusammenhang der wahrge
nommenen Erscheinungen und Vorgänge forschen und, je nach
ihrer Veranlagung und den empfangenen Eindrücken, zu den
Dichtern, Philosophen oder Priester-Propheten ihres Volkes
werden. Solche Menschen, die glauben, anderen den Weg zur
Erfüllung ihrer religiösen Ideale zeigen zu können, wenden sich
unmittelbar an deren Geist, erwecken dorten die Gefühle, die
wir als die ideellen Grundlagen der Religion kennen gelernt
haben, und zeigen, wie diese Gefühle beschwichtigt oder be
friedigt werden können. Das ist die Grundlage und das Wesen
der „geistlichen Macht“.
Die Gründer der großen Religionsgemeinschaften und ein
zelne hervorragende Persönlichkeiten nach ihnen besaßen jene
geistliche Macht in besonderem Maße und wurden dadurch zu
anerkannten Führern im religiösen Leben weiter Kreise ihrer
Mit- nnd Nachwelt. Die Lehre von ihren besonders nahen Be
ziehungen zu dem göttlichen Wesen, dessen Willen sie ver
kündeten und als dessen erwählte Werkzeuge sie sich bezeich-
neten, trug nicht wenig dazu bei, ihren Einfluß und ihre geist
liche Autorität zu erhöhen. Das ist die eigentliche Grundlage,
auf der sich jede religiöse Organisation aufbaut, ohne die sic
ihren eigentlichen Charakter verlieren und ein ihr fremdes
Wesen annehmen muß. Die materielle Umgebung, die bei den
anderen Grundidealen eine so überaus große Rolle spielt, wird
in dem Ideale der Religion ganz in den Hintergrund gedrängt
und gilt eigentlich nur noch als Hilfsmittel zur Demonstration
des göttlichen Willens und der geistlichen Macht. Das ist ein
verhängnisvoller Fehler, denn da sich die von ihr ausgehenden
Kräfte und Einflüsse auf den Geist nicht ausschalten lassen,
kann es nur hervorragenden Persönlichkeiten vorübergehend
gelingen, sie ihrer geistlichen Autorität unterzuordnen oder sie
in wenigstens scheinbaren Einklang mit ihr zu bringen. Wo