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ist ein Punkt, den manche Preußen vergessen, weil sie sich
durch den außergewöhnlichen Fehler von Friedrich den Großen
verführen lassen. Preußen muß zunächst der moralische Führer
von Deutschland werden, bevor es sich erheben kann zum Führer
in Europa, und das wird es werden nicht durch plötzliche Ent
schließungen, nicht durch wildes, impulsives Vorgehen und nicht
durch dringende, diplomatische Änsprüche, sondern durch ein
langsames, wohl überlegtes, mutiges, aufrichtiges Deutschland
und durch eine wahrhafte liberale Politik, die es unmöglich
macht, für die einzelnen Regierungen anders zu handeln wie im
selben Geist und auf denselben Grundsätzen.“
Bismarcks Trumpf im Kartenspiel der europäischen Staaten
war Preußens Schwert; mit Blut und Eisen wollte er dem
deutschen Volk die Erfüllung seiner Sehnsuchtsträume bringen
und hat auch so das neue Deutsche Reich gegründet. Aber
natürlich war das Reich nur mit gleichen Mitteln zu erhalten;
wurde der Trumpf überboten, mußte das Spiel endgültig ver
loren gehen. Und dieser Fall ist jetzt cingetreten.
Ein in der Schweiz im Jahre 1913 erschienenes Buch eines
deutschen Staatsmannes beklagt sich bitter über die nach Bis
marcks Entlassung geführte verhängnisvolle Politik und führt
aus, „daß das deutsche Volk unter der verfassungsmäßig un
genügend verhüteten politischen Unbesonnenheit eines begabten,
vom besten Willen beseelten, tatkräftigen und hochzieligen, aber
allzu jugendlichen Monarchen ohne Lebenserfahrung und
Menschenkenntnis noch schwer zu leiden haben werde, und daß
die Fehler der kaiserlichen Politik, wenn dies überhaupt noch
möglich sei, nur durch Ströme deutschen Blutes wieder gut
zumachen seien. Die von einer unerhörten Selbstüberschätzung
diktierte Entfernung Bismarcks, das Fallenlassen der von Bis
marck bereits nahe bis zum Abschluß gebrachten Verhand
lungen mit Rußland über einen Rückversicherungsvertrag und
mit Japan über ein Schutzbündnis und die Krügerdepesche haben
dem deutschen Volk seine Weltstellung gekostet.“ Die Geschichte
wird einstmals noch viel, viel härter urteilen. Wilhelm II. wollte
Friedenskaiser werden, der größte aller Fürsten, die jemals ge-