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bliothek vorläufig zu eröffnen. Da
bei verwies er auf Artikel VI des
Kodizills, wonach unter veränder
ten Verhältnissen mit Zustimmung
der Testamentswächter eine Abän
derung des Testaments vorgenom
men werden könne. Nach seiner
Beurteilung haben die Stifter den
Zeitpunkt der Eröffnung der Bi
bliothek sich weit früher gedacht.
Die ungeheure Teuerung seit 1852
sei die Hauptursache, daß die vor
handenen Mittel für den geplanten
Bibliotheksbau und die Finanzie
rung des laufenden Bibliotheksbe
triebes noch nicht ausreichten. Es
solle, wegen der gegebenen beeng
ten Verhältnisse im Murhardschen
Landhaus, ein Haus angemietet
werden, wodurch trotz erhöhter
Ausgaben für den provisorischen
Bibliotheksbetrieb mit Ruhe die
Ansparung des Baufonds zur Er
richtung des Bibliotheksgebäudes
und des Verwaltungsfonds für die
laufenden Bibliotheksverwaltungs
ausgaben abgewartet werden könn
ten.
Nach Zustimmung von Oberbür
germeister Nebelthau, des Stadtra
tes und der Testamentswächter zu
den Vorschlägen betreffend Bau
termin wurde durch Vermittlung
von Karl Altmüller für 3.600 Mark
Jahresmiete das Haus „Villa Sam-
barth” der Frau Schorbach an der
Wilhelmshöher Allee Nr. 104 ab 1.
Oktober 1874 zum großen Teil ge
mietet. Hierher wurden in den letz
ten drei Monaten des Jahres 1874
fast alle Bücher der Murhardschen
Bibliothek überführt. Die Murhar-
diana im engeren Sinn verblieben
im Murhardschen Landhaus. Ir
gendwann 1875, wohl nach Dienst
antritt des Schreibers Friedrich
Schäfer am 15. Februar 1875, wurde
die Bibliothek dem Publikum pro
visorisch geöffnet. Die Testaments
wächter hatten der generellen Öff
nung mit Ausleihe nicht zuge
stimmt. Sie empfahlen nur die Ein
richtung eines Lesezimmers.
Die provisorische Maßnahme
der Festanstellung des Bibliothe
kars vor Bibliothekseröffnung
dauerte nicht zwei bis drei Jahre,
sondern tatsächlich 31 Jahre, die
provisorische Maßnahme der Pu
blikumseröffnung der Bibliothek
nicht vier bis fünf Jahre, sondern 25
Jahre. Weitere 25 Jahre stand nur
ein geringer Etat zum Kauf von fast
nur staatswissenschaftlicher Litera
tur zur Verfügung. Zahlreiche Ge
schenke wissenschaftlicher Litera
tur aller Fachgebiete in dieser Zeit
veränderten die Bibliothek im Wi
derspruch zum Testament zu einer
wissenschaftlichen Stadtbibliothek
universeller Ausrichtung. Stif
tungsverwalter Karl Brunner beur
teilte 1898 die Entscheidung von
1874 als falsch: „Es würde dem Wil
len der Stifter besser entsprochen
sein, wenn die Bücher des Mur
hardschen Nachlasses bis zur Er
richtung des Gebäudes in der im
Testament vorgeschriebenen Wei
se aufbewahrt, einem Bibliothekar,
der die Bibliothek der Stiftung im
Nebenamte mitverwaltet hätte,
höchstens jährlich 500 Mk. zu Ge
legenheitskäufen zwecks allmähli
cher Erhöhung der Sammlung auf
die Zahl von 10.000-12.000 Bände (§
24 des Testaments) zur Verfügung
gestellt, dem Bibliothekar und den
im Dienste der Stiftung thätigen
Beamten wohl auch eine Vergü
tung gewährt, im Uebrigen aber der
Zinsenverbrauch auf die allernoth-
wendigsten Ausgaben für die Er
haltung der Erbmasse beschränkt
worden wäre. Bei solchem Verfah
ren würden jährlich allerhöchstens
3.000 Mk. laufende Unkosten ent
standen und der Kapitalisierung
entzogen worden sein. Längst hät
te somit der Bau begonnen und zu
Ende geführt, längst der Vollbe
trieb der Bibliothek eröffnet wer
den können, wenn jener Beschluß
nicht gefaßt worden wäre” (6).
V. Die Murhardsche Bibliothek
der Stadt Kassel als Provisorium
1875-1905
1. Die Bibliothekare und der Be
standszuwachs
Dr. jur. Karl Altmüller starb am
23. September 1880 in Kassel. Über
gangsweise verwaltete die Biblio
theksstelle der Bibliotheksexpe
dient Friedrich Schäfer. Die Biblio
thek besaß zu diesem Zeitpunkt ab
geschätzt 30.000 Buchbinderbände,
Karten, Pläne und Handschriften.
In den fast neun Jahren seiner Tä
tigkeit hatte Altmüller den Bestand
der Bibliothek um rd. 20.000 Stücke
vermehrt, von denen sein Nachfol
ger im Amt 1881 5.312 Werke mit
6.582 Bänden überhaupt erst inven
tarisieren mußte. Unter den Erwer