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Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Dr 215
hat, wie ein doppeltes blut, adern des glaubens und des Zweifels in sich,
die heute oder morgen bald stärker bald schwächer schlagen, wenn glau-
bensfähigkeit eine leiter ist, auf deren sprossen empor und hinunter, zum
himmel oder zur erde gestiegen wird, so kann und darf die menschliche seele
auf jeder dieser staffeln rasten, in welcher brust wären nicht herzquälende
gedanken an leben und tod, beginn und ende der Zeiten und über die Unbe
greiflichkeit aller göttlichen dinge aufgestiegen und wer hätte nicht auch mit
andern mittein ruhe sich zu verschaffen gesucht, als denen die uns die kirche
an hand reicht? jedermann weisz dasz Lessing, sich aus den bedenken win
dend, oft ganz unverhalten redet, auf ihn geht die bezeichnung eines frei-
geistes oder freidenkenden vollkommen so rühmlich als zutreffend, da sie
ihrem wortsinne nach etwas edles und der natur des menschen würdiges aus-
drücken, dem mit freien, unverbundenen äugen vor die geheimnisse der weit
und des glaubens zu treten geziemt, warum verkehren und verunstalten sich
doch die besten , reinsten Wörter! Göthe hat sich an zahllosen stellen, die
hier nicht auszuwählen wären, zumeist im Faust, über die höhen und tiefen
unseres daseins mit voller kühnheit dargegeben, anderemal wo es der zweck
seiner mittheilungen erbrachte, scheu und behutsam, sein Meister birgt
schätze von enthüllungen in kräftiger und blässerer dinte geschrieben; man
musz von sich selbst abtrünnig geworden sein, um wie Stolberg solch ein
buch, nach ausschnitt der bekenntnisse einer schönen seele, fanatisch den
flammen zu überliefern. Aus stellen des dramatischen dichters läszt sich ja
eigentlich kein beweis gegen ihn selbst schöpfen, weil er in rolle der ver
schiedensten personen redet, deren gesinnung er uns aufdecken will, in die
er sich versenkt hat, und warum sollte einen dichter nicht auch sonst lust
oder bedürfnis anwandeln sich in empfindungen andrer menschen zu verset
zen, die lange noch nicht selbst seine eignen sind, dann aber auch nah an
diese streifen? in den drei Worten des glaubens und den drei Worten des
wahns läszt Schiller unverschleierte blicke in sein innerstes werfen, schmerz
haft elegische töne besingen die götter Griechenlands und den Untergang der
alten weit, während der eisenhammer und der graf von Habsburg sich auch
in die wunder der christlichen kirche finden, doch hat ihm diese liebevolle
hingabe an den gegenständ nirgends den freien weg seiner gedanken ver
schlagen, im gegensatz zu philosophen die sich darauf einlassen die lehre