© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Dr 207
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m hohen sommer des jahrs 1839 oder 1840, als ich zu Cassel bellevue-
strafse no. 10 ebner erde wohnte, wurde ich eines morgens zwischen drei
und vier uhr durch heftiges klopfen an die hausthür aus dem schlafe ge
weckt, und empfieng, nachdem einige minuten verstrichen waren, die mel-
dung, dafs ein fremder da sei, der mich dringend zu sprechen verlange,
kaum hatte ich mich notdürftig angekleidet, so trat ein mir unbekannter
mann ins zimmer, und begann, eine rolle papier in seiner hand haltend, ohne
umschweif mir zu eröfnen, mit der westfälischen post eben angelangt und
im begrif um fünf uhr auf dem Frankfurter eilwagen seine reise fortzusetzen,
habe er gelegenere zeit nicht finden können, den mir zugedachten besuch
abzustatten, dessen zweck kein andrer sei, als eine mitgebrachte urkunde
meinen äugen vorzulegen und mich um die deutung eines darin vorkommen
den ihm unverständlichen ausdrucks zu ersuchen. Offenbar gehörte dieser
mann zu den nicht seltnen leuten, welche sich einbilden, wer im ziemlich
leicht zu erwerbenden rufe deutscher spracbgelehrsamkeit stehe, müsse,
gleichsam ein lebendiges lexicon, im stände und bereit sein alle an ihn ge
richteten fragen auf der stelle zu beantworten und über jedes dunkle wort
sich nachschlagen zu lassen. Er entrollte nunmehr die urkunde, welche im
jahr 1120 niedergeschrieben war, und hob aus ihr den satz 'manifesto autem
dei judicio eo morsacio inlerfecto 3 mit der bitte hervor, ihm den schwierigen
ausdruck 'morsacio 3 zu erklären. Eines solchen morsacio wegen einen aus
den armen des Schlafes zu reifsen! Es war nicht das original der urkunde,
was mir vor äugen gelegt wurde, nicht einmal des Originals, sondern des in
Falkes Corveier traditionen enthaltenen druckes abschrift. ich las den satz
durch, überlief den Zusammenhang der urkunde, holte das mir zur hand
liegende werk von Falke herbei und hielt dessen text zur abschrift: beide
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