Ein besonderes Verdienst aber kommt der Stadt Kassel, der damaligen
Dienstherrin der Bibliothek zu in der steten Förderung der von Dr. Otto Fuhr
fachgerecht und zielbewußt neu organisierten Volksbücherei, der heutigen
Stadtbücherei. Es ist hier nicht an eine Konkurrenz zwischen zwei gleichartigen
Instituten zu denken. Vielmehr handelt es sich um die Betätigung einer
sinnvollen, auf Zusammenwirken eingestellten Ergänzung, über die schon im
Testament der Brüder Murhard vernünftig Klärendes gesagt ist. Gäbe es diese in
bestem Flor stehende Stadtbücherei nicht, so müßte sie spätestens jetzt geschaffen
werden.
Eine wiederum ganz neue Situation aber entstand für das Kasseler
Bibliothekswesen durch die Gründung der Gesamthochschule und die Einbezie
hung der bis dahin städtischen Bibliothek in deren Wirkungskreis. Es steht hier
nicht zur Debatte, in welcher Organisationsweise das geschehen konnte.
Entscheidend ist, daß hier der neue Typ einer modernen Großbibliothek
entwickelt worden ist und weiter konstituiert wird, durch deren Gedeihen nicht
zum wenigsten auch das Gedeihen der Hochschule bestimmt wird. Denn wir
wissen aus dem historischen Beispiel der Georgia Augusta in Göttingen, das sich
immer wieder bestätigt hat, daß die Bedeutung einer Universität nicht allein
durch die Qualität ihres Lehrkörpers bestimmt wird, sondern von den Arbeits
möglichkeiten der Studenten her gesehen auch in sehr hohem Maße durch die
Leistungsfähigkeit ihres Bücherwesens, ihrer Bibliothek.
Sehr wesentlich ist aber auch, daß diese in allem moderne Bibliothek sich
zu der 400jährigen Geschichte der Kasseler Landesbibliothek bekennt und damit
zu einer dreifachen Funktion, wie sie in deutschen Landen selten sein dürfte: Als
Hessische Landesbibliothek, als wissenschaftliche Stadtbibliothek und als weit
räumige Bibliothek einer Gesamthochschule. Eine Aufgabe von großartigem
Maß.
Was als fürstliche Privatbibliothek begann, danach das Beispiel fürstlicher
Repräsentation und eine Stätte gelehrter Bibliothekare sowie in dem entscheiden
den Wandel zu einer heimatbewußten Bürgerbibliothek wurde, hat mit der
Murhardschen Bibliothek den Fortschrittsgedanken des 19. Jahrhunderts in sich
aufgenommen. Der Neuaufbau nach einer beispiellosen Katastrophe mündet nun
in eine alles Bisherige übertreffende Sicht. In der 400jährigen Geschichte unseres
Instituts erscheint die allgemeine Entwicklung der deutschen Bibliotheken wie in
einem Sammelspiegel zusammengefaßt und anschaulich gemacht. Sie hat aber
einige bedeutsame Sonderleistungen aufzuweisen: Die Bewahrung kostbaren
alten Besitzes. Die wissenschaftlichen Leistungen ihrer Bibliothekare. Die
Stiftung der Murhardschen Bibliothek und deren bleibende Dynamik. Den
sinnvoll zusammenfassenden Neuaufbau nach äußerer Zerstörung. Die dreifache
Aufgabenstellung in der Gegenwart und Zukunft.
Für diese Zukunft gibt uns die Betrachtung der Geschichte zwei
bedeutsame Erkenntnisse. Entscheidend für die Leistung einer Bibliothek ist
nicht die Masse ihres Bücherbesitzes. Sie kann brach liegen, wie es oft und lange
geschehen ist, oder sie kann vernichtet werden. Entscheidend ist die Qualität des
Bibliothekspersonals. Seine Sachkenntnis, seine Werkfreude, seine Ausrichtung
auf die produktive Arbeit des Benutzers, wer dieser auch sei, und damit auf eine
nicht hoch genug zu schätzende Förderung der Wissenschaft und des Gemein
wohls aller.
Und das Andere: Geschichte ist niemals etwas Abgetanes. Man mag die
Augen vor ihr verschließen wollen, sie mißachten, aber damit löscht man sie nicht
aus. Viel fruchtbarer ist es, sich zu ihr zu bekennen und - nicht nur Lehren,
sondern Kräfte aus ihr zu ziehen.
So mag am Ende und Anfang, den eine jede Jahres-Gedenkfeier bedeutet,
ein Wort der Brüder Grimm stehen, das sie im Jahre 1813 ihrer Zeitschrift
„Altdeutsche Wälder“ vorausschickten: „Wir erkennen eine über alles leuch
tende Gewalt der Gegenwart an, welcher die Vorzeit dienen soll.“