© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 49
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Hauptzweck der Bildung sei, sie zu befähigen hohe Geldpreise
zu gewinnen oder eine ausgezeichnete Prüfungsnummer zu er
obern. Wir erheben gegen diese Mißleitung der Erziehung und
gegen die nothwendig daraus sich ergebenden Uebel nachdrück
lichen Einwand."
Aus der Begründung der einzelnen Mißstäude heben wir
Folgendes hervor: Unter dem herrschenden Prüsungs- und
Preissystem wird aller Unterricht über einen Kamm geschoren.
Nichts Unheilvolleres für den Fortschritt des Schulwesens!
Nene Methoden, neue Ziele des Unterrichts können nicht auf
kommen; ein geistiger Stillstand tritt ein. Der überwiegende
Einfluß der Prüfungen macht es dem Lehrer unmöglich, sich
selbst im Unterricht zu geben, persönlich zu wirken, denn überall
wird er beherrscht von dem Gedanken an das kommende Examen,
für das er natürlich seine Schüler erfolgreich vorbereiten will.
Der Schüler dagegen will nur mechanisch geführt werden, er
weiß und kennt es gar nicht anders. Sein geistiger Horizont
wird immer enger. Was nutzt das für das Examen? ist sein
Hauptgedanke. Er wendet sich ab von all den neuen geistigen
Interessen, die in ihm aufkeimen würden, wenn es ihm erlaubt
wäre, das Wissen um seiner selbst willen zu lieben. Das sind
für ihn Luxusartikel, die er traurig bei Seite schieben muß,
denn sie helfen ihm nichts für die Prüfung." Der Schüler
und der Student dürfen gar keine eigenen geistigen Interessen
hegen, nichts selbst wählen, nirgends frei sich vertiefen. Da
die Prüfungen von fremden Examinatoren nach unabänderlichem,
bis ins Einzelste feststehendem Schema und nur schriftlich ab
gehalten werden, so kommt nie der Eindruck der gebildeten
Persönlichkeit, sondern nur das eingepaukte, zurechtgemachte
mechanische Gedächtnißwissen zur Beurtheilung. Darunter
leidet die Ausbildung der edleren geistigen Fähig
keiten. Das gewonnene Wissen wird, sobald es seinen
Zweck, durch das Examen zu helfen, erfüllt hat, schnellstens
wieder vergessen. Bei der üblichen Art des Unterrichts auf
höheren Schulen wird wobl schnellfertige Flüchtigkeit und die
Fähigkeit erreicht, einen Gegenstand gewandt obenhin abzu
handeln. Die Folgen aber sind: die Unfähigkeit, selbständige
geistige Arbeit zu ' leisten, die Bevorzugung des Scheinwstsens
vor dem wirklichen Wissen, das Aburtheilen über schwierige
Gegenstände, für die das eigene Urtheil noch gar nicht reif ist,
die Einbuße an geistiger Selbstbestimmung, die Abhängigkeit
von der Leitung anderer, der Glaube an Kunstgriffe und fertige
Antworten, schließlich die Abneigung, eine geistige Arbeit
zu unternehmen, die nicht einen umnittelbaren materiellen Erfolg
verspricht.
„Wir haben aus unsrer Erziehung einen Körper ohne Seele
gemacht. Wir verderben dasB.ste." Nichts Edleres und Höheres
als in einer jungen Seele das Feuer der Wissenschaft zu
entzünden, ihr Welt und Wissen zu eröffnen und beide zu ver
söhnen. Aber die Prüfuugsgegenstände und das Leben trennt
ein Abgrund. Grade die edelsten und begabtesten Naturen
leiden am schwersten unter der alleinigen Schätzung der
Prüfungsergebnisse. Echte Bildung fällt dem Examengötzen
zum Opfer. „Wieder und wieder verlassen junge Männer, die
einst viel versprachen, unsre Universitäten als die großen Preis
gewinner, und thun in ihren späteren Jahren wenig oder nichts
mehr. Sie haben ihr geistiges Leben ausgelebt, ehe sie fünf
undzwanzig Jahr alt waren. Sie meinten, sie hätten den Sieg
des Lebens gewonnen und das Wissen erschöpft und hatten noch
nicht einmal die Schwelle des Lebens und der Wissenschaft
überschritten."
Die Prüfung sollte die Dienerin der Bildung sein, sie ist
aber die Herrin geworden. An der Prüfung seiner Schüler
sollte der Lehrer sehen, was er selbst geleistet hat; dann ist sie
nützlich. Aber der Einfluß übertriebener Prüfungen hat dazu
geführt, daß der Lehrer sich einfach den ihm von außen auf
drängten Vorschriften anbequemt, den Glauben an sich selbst
liert, auf den Standpunkt des für die Prüfung vorgeschrie-
n Schulbuches herabsinkt, und von sich selbst nur wenig in
lt». Erziehungswerk hineinlegt.
So sind gegenüber den echten Lehrern in England die er
folgreichen Einpauker (erammers und eoaelle«) gesucht und ge
schätzt. Durch die Verschwendung, mit der unverständige reiche
Wohlthäter immer neue Stipendien und Preise für die besten
„Prüfungsrenuer" stiften, durch die immer neue Erfindung von
Prüfungen wird das Uebel nur vermehrt. Besser wäre es,
uach der Meinung der Unterzeichner, wenn diese Mittel dafür
verwendet würden, verschiedene Lehrstühle derselben Wissenschaft
zu gründen, damit die entgegengesetzten Schulen und Lehr-
meinungen besser vertreten wären.
Höchst beachteuswerth ist die Anwendung, welche der Protest
von den Folgen der herrschenden Mißerziehung auf die engli
schen höheren Mädchenschulen und akademischen Anstalten für
Frauen macht, die bei uns so warme Vertheidiger gefunden
haben.
„Wir haben _ nur hinzuzufügen, daß das was wir mit
Bezug auf die Erziehung der Jünglinge und Knaben gesagt
haben, nothwendig in verstärktem Maße Anwendung findet auf
junge Frauen und Mädchen. Es ist tief zu bedauern, daß ihre
Erziehung nichts wird als eine schale Wiederholung all der
Mißgriffe, die in der männlichen Erziehung gemacht werden."
Ihre Gesundheit leidet und ihre geistige Eigenart noch mehr
unter dieser Art der Heranbildung.
Schließlich giebt der Protest der Hoffnung Ausdruck, daß
die Abschaffung des gegenwärtigen Systems besseren und
klareren Einsichten vom Wesen und den Zwecken der Bildung
Raum schaffen werde, daß dann allmälig eine sorgfältige Bil
dung der geistigen und seelischen Fähigkeiten an die Stelle des
Auswendiglernens treten werde. Der' nächste Schritt soll sein,
eine Bittschrift au die Königin zu richten: sie möge eine Kom
mission mit der Untersuchung der Frage betrauen und ibr auf
geben, auch aus die Einrichtungen anderer Länder ihr Augen
merk zu richten.
Für uns Deutsche ist das unverdächtige Urtheil, welches
ein Gelehrter wie Max Müller, der an einem der Mittelpunkte
englischer Bildung und englischer Prüfungen lange gelebt und
auf beide Einfluß geübt hat, aus eigenster Erfahrung heraus
fällt, doppelt beachteuswerth. „Nach dem", so äußert sich der
greise Gelehrte, „was ich in Oxford und sonst gesehen habe,
scheint mir alle wahre Freude am Studium durch die jetzige
Handhabung der Prüfungen zerstört zu sein. Die jungen Leute
bilden sich ein, all' ihre Arbeit habe nur ein Ziel, sie
zu befähigen das Examen zu bestehen. Jedes Buch, das sie
zu lesen haben, ist bis auf die Seitenzahl ihnen vorgeschrieben.
Keine Wahl ist ihnen gestattet, keine Zeit bleibt ihnen, einmal
nach rechts oder links zu blicken. Was folgt daraus? Die
geforderte Seitenzahl wird zwangsweise und deshalb widerwillig
abgearbeitet. Wenn die Prüfung vorüber ist, wird die schwere
und unnütze Last wieder abgeworfen. Nichts ist in succum et
sanguinem verwandelt. Das Einzige, was übrig zu bleiben
scheint, ist eine geistige Uebelkeit, ein Widerwillen gegen das
hernntergeschlungeüe Futter. Das Unheil ist höchst ernst. Es
wird das beste Blut Englands vergiften, wenn es nicht schon
vergiftet ist."
Professor Ed. A. Freeman in Oxford macht das herrschende
System einfach lächerlich, zeigt die groteske Seite der Vorberei
tungen. und beklagt die Entwürdigung, die ecktter Unterricht
und echte Wissenschaft durch das Pauk- und Preissystem erleiden.
Frederic Harrison nennt das Ganze geradezu eine Farce.
Auf diesen Protest, der in England das größte Aufsehen
erregte, und die erammers, coaches und professionellen Exami
natoren durch die rücksichtslose und nicht überall gerechtfertigte
Schärfe der Angriffe in Harnisch brachte, erschien sofort eine
Erwiderung in dem Dezemberheft der „Nineteeuth Century"
Mit Recht macht die Replik darauf aufmerkam, daß es eine
Uebertreibung sei, zu behaupten, das herrschende System führe
zu einer geistigen Ueberbürdung und die körperliche Entwicklung
und Thätigkeit der Knaben werde mehr als gut dadurch be
schränkt. Die Stärke der englischen Erziehung liegt in der
Pflege körperlicher Uebungen und männlichen Sports, der den
Willen fühlt, zu freier Selbstbeschränkung erzieht und Selbst
vertrauen weckt. Es wird ferner in der Erwiderung
darauf hingewiesen, daß eine völlige Freiheit des Lehrers in
dem Umfang und der Behandlung des Unterrichtsstoffes
auch ihr Uebles haben dürfte, und daß durch klare und genaue
Prüfungsbcstimmungen Lehrer und Examinator bei der Stange
gehalten werden und nicht ins Weite schweifen können. Aber
auch diese Replik erkennt die Resormbedürftigkeit der Schulen
und Prüfungen voll an, auch sie verdamint die für das Examen
zurecht gemachten Lehrbücher und gesteht, daß Halbwisserei,
Oberflächlichkeit und Urtheilsfertigkeit in bedenklichem Maße
zugenommen haben.
Der tiefere Grund, weshalb das Uebel so große Aus
dehnung gewinnen konnte, ohne daß man die Klagen, die schon
vor zwanzig Jahren sich erhoben, hörte, liegt wohl darin, daß
der Engländer im Allgemeinen auch Wissen und Gelehrsamkeit
nach Geld und äußerem Erfolg schätzt. Der Lehrer der eng
lischen Volksschule schon wird bezahlt nach den Prüfungs
ergebnissen seiner Schüler (payment by results). Da ist es
kern Wunder, wenn von der Dorfschule bis zum vornehmen
College die Lehranstalten zu Drillaustalten geworden sind.
Stephan Waetzoldt.