sches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 45
tbll
Leipziger Literatur-Zeitung.
Am 19. des December.
1812.
Intelligenz - Blatt.
Lieber einige literarisrhe Jugendurtheile des Hrn.
von Goethe im zweyten Bande von: Wahrheit
und Dichtung aus meinem Leben.
Durch seine Selbstbiographie scheint sich der bewun
derte Genius des Herrn von Goethe, dem man zuwei
len Mangel an Humanität gegen das grössere Publicum
vorwarf, seinen Lesern auf einmal vertraulich zu nä
hern. Diese Denkschrift aus dem Leben eines berühm
ten Lichters, welche nach dessen eigener Absicht die
Bekenntnisse Seiner Werke in ein Ganzes vereinigen
soll, ist ganz in dem ruhigen und leicht hinfliessen-
den Tone geschrieben, den eine Erzählung im Schat
tenreiche hinter dem Lethe haben mag, wo der Selbst-
^ biograph schon einen über sich und sein Ze&altov er
hobenen Staudpunct eingenommen hat. Ja selbst die
offenherzig gestandene Mischung von Dichtung und
Wahrheit, an der man hier und da einige Ausstellung
gemacht hat, scheint vielleicht noch weniger aus dem,
grossen Künstlern sonst ehen nicht fremden Triebe ent
standen zu seyn, mit sich und dem Publicum zu spie
len, als in der Natur des Dichters, und überhaupt des
Menschen gegründet, der sein vergangenes Leben noth-
wendig idealisiren muss. Der zweyte Tlieil, der jetzt
begierig gelesen wird, muss um so interessanter seyn,
da er gerade den Zeitpunct berührt, in welchem der
Grund zu der literarischen Bildung oder vielmehr
Stimmung seines Verfassei's gelegt wurde, und da er
die Ansichten enthält, welche der junge sich fühlende
Geist über den damaligen chaotischen Zustand einer,
dem Zufall so ganz überlassenen Literatur, wie die deut
sche, haben konnte. Mit Selbstverlämpiung, die nie
manden für den Gegenstand begeistern, aber die Men-
Ü^achenkunde bereichern will, schildert Hr. v. Goethe
seine akademischen Jagendjahre in manchen für ein
tiefes Gemiith unerheblichen Situationen, und eben
nicht achtungswerthen Umgebungen. Vieles , Avas sonst
die Jugend solcher Menschen, die auf ihr Zeitalter zu
wirken bestimmt sind, auszeichnen mag, schwermu-
thige Anstrengung des Fleisses, Erliegen unter einer
Fülle ungeordneter Ideen, Träume künftiger Wirk
samkeit, schwärmerische Anhänglichkeit an Lehrer oder
literarische Parteyen, platonische Liebe und Freund
schaft, die ihre Gegenstände hoch über sich selbst
Vierter Band.
stellt — würde man liier vci'gebens suchen. Bey ge
wöhnlichen Verhältnissen, und bey dem zeitig geübten
Blick des Weltmanns, der sich mit der Klugheit Epicuri-
scher Götter vor allem, was zu gewaltsam auf ihn ein-
dringen will, zurückzieht, ward es dem Hrn. v. Goetha
leicht, sich frühzeitig über sein Studium, seine Leh
rer, Freunde und Geliebten erhoben zu fühlen. Und
so ward das vielgewandte Künstlertalent gebildet, das
seine Stoffe sich- angemessen zu wählen und zu beherr
schen, Leidenschaften, Menschenschicksale, ja selbst
einen Grad hoher Begeisterung mit glücklicher Ironie
darstellen kann, ohne sich ganz hinzugeben. Ein
Selbstbiograph, der auf diese Art wenigstens den guten
Willen verräth, sich selbst nicht zu schonen, kann
auch deswegen nicht in Anspruch genommen werden,
I" ' KS in seinen Uriheil en gegen andere eben so we
nig schonend verfährt, und wenn der Zweck dieses
Aufsatzes ist, zum Besten der gerechten Sache, die in
der Literargeschichte doch auch berücksichtiget werden
muss, von einigen notorisch einseitigen Jugendurthei-
len und Charakterschilderungen des Hrn. v. Goethe
den Grund aufzusuchen, so geschieht dieses gewiss
nicht aus der Absicht, die Aeussernngen des Hrn. v.
Goethe als eine literarisch? Rügensache zu behandeln,
oder ihn selbst zu andern Ansichten bekehren zu wol
len. Man könnte die Urtheilskraft dieses Dichters,
welche sich hier doch nur so zeigen will, wie sie
erzogen worden, (und demzufolge als ein ehen so grosser
Proteus aul’ti’itt, wie dessen Phantasie), ruhig geba
ren lassen, wenn sie sich in alle Ansichten des Zeit
alters wirft, die sie erlebte, wenn sie mit allen ästhe
tischen Ansichten, eben so wie mit Unglauben, Aber
glauben, Protestantismus und Katholizismus gleichsam
zu spielen scheint. Allein diese Geschichte seiner Zeit
von einem geistreichen Augenzeugen entworfen, ist so
voll lebendiger Menschenschilderungen, mit so man
cher tiefen Bemerkung und Uebcrsicht ausgestattet,
dass sie wohl gar als unwidersprechlichcs Document
der Literargeschichte von leicht zu bestechenden Le
sern angeselin werden dürfte. Herr von Goethe hat
unbedingte Bewunderer, welche nur gar zu geneigt
sind, an der undankbaren Unart der deutschen Bü
cherwelt Anfheil zu nehmen, und um frische Kranze
zu winden, nichts bessers wissen, als die alten zu zer-
reissen. Ausserdem gibt es Leser, die nicht Musse