Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
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wo ihnen Und ihren litcrarischöN und kunsthistorischen Schätzen eins Zu
flucht zu St. Paul im Lavaniha! wurde. DieKlostergebäuds mit 300 Morgen
Wald- und Wiesengelände wurden an Hm. v. Eichthal in Karlsruhe ver
kauft ; das kupferne Dach der Kuppel und die Eisengitter der Fenster des
Erdgeschosses stellten mehr als die Hälfte des Kaufpreises von 80,000 fl.
dar. Hr. v. Eichthal war ein mächtiger Industrieller: wo früher die Mönche
ihren Studien obgelegen, raffelten bald die Webstühle einer Baumwollen-
fabrik; Weiler thalabwärts wurde in einer Gewehrfabrik gehämmert; das
Ganze ward getrieben durch die infernalisch tönende Turbine. Aber auch
für das Wohl seiner Arbeiter war er besorgt: er verschaffte ihnen Schlas-
und Speisesäle, und die erste Eisenbahn Deutschlands schaffte ihnen das
Mittagessen aus der Küche, jedem an seinen Platz. Eichthal erlag ehren
voll der Ungunst der Verhältnisse; seine Nachfolger Kraft .und Grether
aus Lörrach kauften das Anwesen um 100,000 fl. und beschäftigen jetzt
weit mehr als 600 Arbeiter.
Daß ein Gasthaus dem Kloster Bedürfniß war, gieng schon aus der
Zahl der Bauern hervor die demselben Zinsen und Abgaben brachten, wenn
auch vornehme Reisende, wie Nikolai, in der Abtei ihr Absteigquartier
haben mochten. Dasselbe blieb auch unter der Eichthal'schen Zeit eine an
sehnliche Pachtung. Doch erst nach Führung der Werra- und Albthal
straßen, der romantischsten des Schwarzwaldes, gewann es Bedeutung für
die Touristen, die sich von Jahr zu Jahr mehrten. Mit dem jetzigen Be
sitzer Ellensohn, der früher dem Gasthause zu Mainau vorgestanden, be
gann es einen Rang unter den Gasihöfen einzunehmen, und in kurzer Zeit
wurde es im Sommer zu eng für die Zahl der Gäste, und manche „Equi
page" mußte des Abends noch auf stundenweite Entfernung ihr Unterkom
men suchen. Da erbaute der Besitzer jenseits der Alb ein elegantes Schwei
zerhaus mit 30 Zimmern, für ruhigen längern Aufenthalt ganz geeignet,
durch Bäder in der frischen Alb dem Erfrischung Suchenden heilsam. Kurz
vor dem großen Krieg wurde cs fertig; der Großherzog und seine Familie
waren die ersten die auf ihrer Schwarzwaldfahrt dort Einkehr nahmen!
nach ihnen wurde es Friedrichs- und Louisenruhe genannt. Freilich machte
der glorreiche Krieg es fast unnöthig, desto mehr aber zeigte sich das Be
dürfniß in diesem Jahr, da des Reifens und der Sommerfrische Lust mit
doppelter Stärke hervorbrach. Die Eleganz und Güte der Tafel, die auf
merksame Bedienung, der nahe Wald und allenthalben in demselben an
gelegte mühelose Spaziergänge mußten gerade Leute von höherer Lebens
stellung anlocken. So geschah es daß Hunderte von Gästen um den gast
lichen Tisch sich sammelten, Minister und Finanzdirectoren, Generale u&b
reiche Kaufleute neben den Leuten von bescheidenern Lebensstellungen. Äie
alle suchen nur in der reinen Luft, dem vortrefflichen Wasser, dem guten
Tisch Erholung und neue Kraft zu ihrem Berufe. St. Blasien hat keine
andern Heilquellen als Luft und das Waffer der rauschenden Alb und
Tannendüfte. Allein dieses ist hinreichend für seine Gegenwart, und es
wird auch seine Zukunft haben.
Holbein-AuSstellnng in Dresden.
II. Hie Dresden! — Hie Darmstadt!*)
* Das berühmte und gefürchtete Madonnen-Turnier, die unmittelbare
Vergleichung der beiden rivalisirenden Exemplars des Holbein'schen Botiv-
bildes mit der Familie des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen,
ist so sehr der Kernpunkt der ganzen Holbein-Ausstellung, ist so
sehr eine Sache ganz für sich, die im Vordergründe des Jntereffes bei
Kennern und Laien steht, daß ich glaube darauf verzichten zu müssen mir
die „Madonnen Frage" zur Steigerung für den Schluß aufzusparen, son
dern mich verpflichtet fühle gleich direct auf diese fürchterlichste aller kunst«
historischen Fragen, die glücklicherweise endlich keine Frage mehr ist, los
zugehen.
„Kommt die Confrontation der beiden Madonnen, die für diesen
Herbst beabsichtigt war, wie zu hoffen steht, im laufenden Jahr in Dresden
zu Stande, so wird die Dresdener „Holbein'sche" Madonna in der Kunst
geschichte von da an nur noch als das interessante Denkmal eines langen
Irrthums fortleben."
So schrieb ich kurz nach der Ausstellung alter Bilder zu München im
Jahre 1869 (Ergänzungsblätter, Bd. 5, S. 26), nachdem ich dort das
Darmftädter und kurz darauf hier das Dresdener Exemplar der Meyer'>
fchen Madonna gesehen und verglichen hatte. Jetzt — ein jedes freilich
später als zu hoffen stand — ist der Zeitpunkt der Prophezeiung und weit
über alles Erwarten schlagend diese selber eingetroffen. Die Kühnheit mit
der ich damals urtheilte, ohne die Bilder neben einander gehabt zu haben,
hat mir nachträglich ein gewiffes Bangen erregt, das mich namentlich vor
dem ersten Betreten der Holbein-Ausstellung ergriff. Aber mit dem dreisten
Urtheil hab» ich das'Nichtige getroffen: der erste Eindruck schon zeigte daß
der Abstand zwischen beiden Bildern viel größer ist als ich ihn mir je vor-
*) S. Ällg7Ztg7'Nr7252 B.
gestellt hatte — wiederum cm Beweis wie sehr man jedesmal unter dem
Banne des gegenwärtigen Kunstwerkes steht. Jeder mit Selbstkritik aus
gerüstete Beobachter wird diese Wahrnehmung an sich selber gemacht haben.
Man sollte sich jetzt der Thatsache, wenn auch nicht zur Entschuldigung, so
doch zur Erklärung früherer Urtheile über das jetzt gerichtete Dresdener
Bild erinnern, statt aus denselben ein Capital zuschlagen das keine Zinsen,
keinen Herrn und — keinen Werth hat.
Ich komme auf diese Gedanken, veranlaßt durch die kritischen Stand
punkte welche von dem Dresdener Madonnen-Turnier Gelegenheit genom
men haben sich öffentlich darzulegen. Wir stehen einer Thatsache gegen
über, die allerdings Befremden, Staunen, Verwunderung im höchsten
Grad erregen muß. Im Jahre 1743 wird ein Bild bekannt das, in einer
Gallerte wie die Dresdener ist, sich den hervorragendsten Spitzen beigesellt,
das einen fast vergeffenen deutschen Künstler unter die Maler erster. Ranges
stellt, und das mit seinem Meister zusammen im Sturm Weltruf erwirbt.
Da taucht 1822 auf räthselhafte Weise ein zweites altes Exemplar derselben
Composition mit einigen Abweichungen aus, natürlich ganz bescheiden als
Copie des weltberühmten Dresdener Bildes. Bald wird es ein zweites
Original von des Meisters eigener Hand, in kurzem sogar das ältere von
beiden; und während das neuentdeckie Bild hiermit den Gipfel seines
Ruhmes und seines Ansehens ersteigt, fängt das andere, das altbewährte,
im Weltruf eingesessene, an in den Augen der Kenner erst langsam, dann
immer schneller und schneller zu sinken, von der Entdeckung mitarbeitender
Schülerhände in untergeordneten Theilen bis zu dem Todesurtheil der abso
luten Unechtheit, deffen Forme! ich bereits neulich mitgetheilt habe. Und auf
allen Stadien die diese gegen einander schwankenden Wagschalen der bei
den Bilder durchlaufen, sprechen die sogenannten Kenner mit unfehlbarer
Ruhe und untrüglicher Sicherheit jedesmal die der augenblicklichen Lage
entsprechenden Urtheile über beide Bilder aus; bezüglich des Dresdener
Bildes stehen die älteren Zeugen gegen die jüngeren, und wer nur im
Abstand weniger Jahre sich über die Madonnen-Frage geäußert hat, steht
mehr oder minder gegen sich selbst.
Wer nun den burlesken Humor der Paradoxie in sich hat, dabei
das Ganze für Geschmacksache und "somit unentschuldbar hält, und ein eil
Zahn auf die anmaßenden Kunstweisen hat, der braucht sich bloß in Muße
stunden den grausamen Scherz zu machen alle jene Weisheitssprüche zu
sammeln, und das Sammelsurium, fein bequem auf den chronologischen
Faden gereiht, dem kunstliebenden Publicum darzubieten,um sich ganz ruhig
mit schadenfrohem Herzen neben diese „sogenannte" Kunstwissenschaft am
Halseisen stellen zu können, und aus der Menge das suppeditirte Goethe'sche
Motto mit Hohngelächter erschallen zu hören: „Jeder dieser Lumpenhunde
wird vom andern abgethan!"
Das ist im wesentlichen dasjenige was der in der Deutungs-, Herkunfts
und Echtheitsfrage der beiden Madonnen vielgewandte und vielgeprüfte
Profeffor Gustav Theodor Fechner in Leipzig vorgenommen hat in einer
mit gewohntem Fleiß und Geschick gearbeiteten Broschüre von XII
und 167 Seiten, welche unmittelbar vor dem Beginn der Holbein Aus
stellung, unter dem Titel: „Ueber die Echtheitsfrage der Holbein'schen
Madonna-Discussion und Acten," zu Leipzig im Verlage von Breilkopf
und Härtel erschienen ist.
Doch auf die Prämissen kommt's an in der Logik! Die mittlere und
hauptsächlichste aber der obigen Prämissen zu dem Unternehmen Fechners
ist hinfällig, und die beiden andern können die Neigung, nicht aber die
Berechtigung zu demselben begründen. Eine Untersuchung über die Echt
heit der Urkunden — Originalbilder sind Urkunden für die Kunstgeschichte
— hat mit dem Geschmack gar nichts zu thun, und speciell z. B. gegen
mich erhebt Fechner, entgegen den Acten des Processes, also mit schreien
dem Unrecht, den Vorwurf: daß ich, wie er cs nennt, die Echtheitsfrage
mit der Schönheitsfrage solidarisch behandelt habe. *) Dagegen hat er
*) So soll ich (S. 34) „die Proportionen des Bildinhaltes" im Darmstädter
Bilde „vortheilhafter" als im Dresdener gefunden haben. Nach dem Grund
sätze : chnque chef-d’oeuvr« de l’art nalt avrc son cadre, und einge
denk der Erfahrung daß die Künstler der Nenaisiance ihre Gruppen streng
nach den Linien der Umrahmung anzuordnen lieben, bin ich allerdings aus
dem Geschmacke der Zeit heraus auch noch heute der Ansicht: daß das Darm
städter Bild in den Proportionen strenger und stylvoller ist als das Dresdener.
Von Solidarität aber des GeschmackSurthcils mit dem historischen ist hier bei
mir so wenig die Rede, daß ich vielmehr sage: „Das Darmstädter Bild hat
in den Figuren etwas gedrücktes; die Composition ist in und mit ihrem Raum
gedacht, aber die Personen, namentlich der Bürgermeister selbst, haben sich
den Raumbedingungen beugen müssen. Ein modern fühlendes Auge konnte
leicht daran Anstoß nehmen, und dem Copisten den Auftrag geben bei der
Wiederholung mehr Raum zu schaffen. Ob das im ganzen besser thut oder
nicht, geht uns nichts an; wohl aber ob die Veränderungen durchweg einen
empfindenden und erfindenden Künstler verrathen." Dieß wird dann aller
dings unter Hinweis aus den gelockerten Zusammenhang zwischen den Figuren
und der Umrahmung und auf die Verschlechterung der Architektur unter dem
Gesichtspunkte der tektonischen Richtigkeit geläugnet. Das aber sind keine Ge-
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selber der Sache gleich im ersten Absatz seiner Vorrede ein „nationales Ge-
rnüthsintereffe" beigelegt. Das ist in der mir bekannten wiffenschastlichen
Methodologie ein so neuer und fremdartiger Begriff, daß ich es nicht für
unverfänglich halte ihn auch nur zu erivühnen. Es ist wesentlich hie
von Notiz zu nehmen.
Hr. Fechner hat sich in die Reihen der Kunstsorscher gestellt, wo der Streit
am heißesten brannte, und ausgesprochenermaßen die Absicht verfolgt der
Kunstwissenschaft strenge Methode beizubringen. So hat er mit vortreff
lichern Fleiß und Scharfsinn über die Geschichte der Holbeinischen Madonna
gehandelt, und als eine drei Zeilen lange Katalog-Notiz kurz darauf zu
Tage gekommen, erklären müssen: daß seine eigenen mühsamen, aber erfolg
losen Bestrebungen in derselben Richtung einfach in Schatten treten. In
der langen Abhandlung, deren Schluß die letzten Worte bilden, bemüht ec
sich streng methodisch nachzuweisen daß daS Kind in den Armen der Madonna
das kranke Kind des Bürgermeisters Meyer, nicht bas Christkind sei, und
heute, wo das Darmstädier Bild mit dem freundlichen Kind ohne allen
Zweifel als das frühere — ich will heute gar nicht sagen: das einzig echte
— erkannt und anerkannt ist, muß er selbst lachen über diese romantisch'
thörichte Auslegung. Jetzt wagt er den dritten methodisch kritischen Gang,
selbst von „nationalem Gemüthsintereffe" beeinflußt und der wieder'
holentlich ausgesprochenen festen Ueberzeugung lebend: daß die Madonnen-
Frage schwerlich jemals werde entschieden werden können. Spöttisch, höh'
nisch stellt er die bisherigen Kämpen gegen einander und, indem er alle
Autorität zu untergraben sucht und glaubt, rettet er die „Frage" in der
Schwebe.
Das steht, zumal in der geschickten Weise wie es gemacht ist, sehr
objectiv aus; irr Wahrheit aber ist cs nur unnütz und langweilig, und
jetzt, wo die Möglichkeit eines abschließenden Urtheils in der Sache zugleich
mit dem Inhalte derselben sich sogar den Widerstrebendsten aufgedrängt
hat, erscheint die Vorsicht als Zaghaftigkeit. Man muß eben den Muth
des Urtheils über Dinge, Meinungen und Personen haben. Ohne dieß
keine Forschung. Hr. Fechner aber verfährt stets nach demselben Schema,
wie folgt: „Sv wenig Bruno Meyer noch ein gutes Haar am Dresdener,
läßt Karl Förster ein solches am Darmstädter Bilde indem sich aber
solche Extrems bekämpfen, richten sie sich zugleich." Solche Schlußfolgerung
aber ist wohl nicht gerade objectiv. Wenn A sagt: daS ist weiß, B da
gegen : ich sehe daß es schwarz ist, so folgt daraus keineswegs daß der
fragliche Gegenstand schwarz und weiß, oder vielleicht auch roth ist, A
und B aber beide Esel sind; sondern A kan» recht haben, B aber blind sein.
Darüber muß man ins reine kommen.
Auf S. 33 finde ich mich noch einmal demselben Kenner, außerdem
aber dem Grafen Algarotti und Fr- v. Schlegel gegenübergestellt. Es ist
aber doch wohl keine Vermessenheit von einem modernen Forscher ein
ruhigeres Urtheil für sich in Anspruch zu nehmen als dem glücklichen
Finder und Käufer des Bildes zur Seite stand, und wenn der Romantiker
schmacks-, sondern Thatsachen; und wenn hier ein Geschmacksurtheil geäußert
ist, so lautet es zu Ungunsten des Darmstädter Bildes. Da ich einmal auf
mich selber zu reden gekommen bin, will ich noch ein paar Punkte berühren.
Der Verfasser thut niir (S. 45) die Ehre an in mir nur Woltmannö Echo
wiederzufinden. Das ist nun an und für sich, wenn der Augenschein für
eigene Studien mid Beobachtungen unverkennbar spricht, um der Ueberein
stimmung in wesentlichen Punkten willen, eine abgeschmackte Imputation.
Speciell aber bei den kritischen Ergebnissen der Münchener Ausstellung ist,
soweit nicht noch andere an gewiffe Beobachtungen Urheberrechte haben,
zwischen Weltmann und mir kaum zu sondern, da wir wochenlang in so
unmittelbarem Gedankenaustausch vor dem Bilde gestanden haben, daß kaum
die Priorität dieses oder jenes Gedankens ermittelt werden könnte. Nur die
Veränderungen in der Architektur habe ich zuerst bemerkt und nach ihrem
kritischen Werthe festgestellt; und das hat Weltmann auch in der „Süddeutschen
Presse" gesagt, wie es zu seinen liebens- und lobenswerthen Gewohnheiten
gehört daß er sich für empfangene Anregungen und Mittheilungen an ge
eigneter Stelle öffentlich dankbar erweist. Ferner lese ich auf S. 55:
„Worauf Meyer den von ihm gethanen Ausspruch stützt, Holbein habe die
Architektur besser als die gleichzeitigen Baumeister in Deutschland verstanden,
ist schwer zu sagen." Ich finde das erstaunlich leicht: aus die Thatsachen!
Oder weiß Hr. Profeffor Fechner einen deutschen Baumeister der neben Hol
bein her schönere Renaissance erfunden hat, als der Maler von feinen Ba
seler Zeichnungen an bis zum Kamin Heinrichs VIII.? Dann hätte er ihn
nennen sollen. Ich unterwerft mich der Entscheidung des H:n. Prof. Lübke, der
jetzt die Renaissance in Deutschland erforscht. An einer Stelle aber hat Hr.
Prof. Fechner— z«ar blind geladen, aber doch getroffen. Ich habe nämlich
(auß.r einer unhaltbaren Vermuthung über die Entstehungszeit des Dresdener
Bilres) meine frühere Ansicht zurückzunehmen, da das Darmstävtrr Bild keine
wesentlichen Deränderungen von fremder Hand erlitten. Tie-'e Ansicht habe ich
zwar gehabt, aber niemals geäußert. Das vortreffliche Oberlicht in München
ließ die Retouchen in dm Köpfen, welche jetzt in schönem Seitenlicht leicht
constaiirt sind, nicht erkennen. Wenn ich das Bild „wunderbar intrct" nannte,
so bezieht sich das an der Stelle ersichtlich auf den Gesammtzusta»,d des Bil-
d.s, insbesondere auf die Firnißdccke; da aber bleibt es richtig. Der Verfasser
hat hier wie sonst seine Geschicklichkeit bewährt — auseindaner zu lesen was
zusammen gedacht ist.
den reinen Farbenaccord im Dresdener Bilde bewundert, der Kritiker aber
die Harmonie vermißt, so braucht man nur nicht zu verschweigen daß zwi
schen beiden Urtheilen das Bild von einem dunkeln Firniß befreit worden
ist, um, von allem übrigen abgesehen, schon dadurch über den „Widerspruch
zwischen den Kennern" hinweg zu kommen. Wenn das was hier Hr. F.
vorreitet Methode wäre, so würde diejenige Wiffenschaft glücklich zu preisen
sein die am wenigsten Methode hätte. In der That ist dieß das non pluo
ultra des Dilettantismus und der Planlosigkeit. Der Vers. fürchtet, von
nationalem Gemüthsintereffe beherrscht, die Entscheidung, die, wie er fühlt,
wenn sie überhaupt möglich ist, gegen sein Jntereffe ausfallen muß. Anstatt
nun der Wiffenschaft den Dienst zu leisten dessen sie bedarf, ihr den Grund
ihrer Irrthümer und die Mittel zur Vermeidung ähnlicher Täuschungen in
der Zukunft aufzuweisen, zertrümmert er ihre Autorität, und anstatt eine
befestigende Methode zu schaffen, beseitigt er die Wiffenschaft selbst als
solche. Das ist ein ganz amüsantes Spiel für den der harmlos zuschaut,
wem es aber mit der Wiffenschaft überhaupt und mit der Kunstwissenschaft
insbesondere ernst ist, der muß solch Spie! als frivol bezeichnen. In
schwierigen Wendepunkten muß man feste Punkte zu finden streben, nicht
aber alles Feste zu untergraben und zu stürzen suchen. Wie wenig Hr.
F. einen Begriff davon hat daß die vorliegende eine wisienschaftliche Frage
ist, wie sehr vielmehr gerade er sich darin gefällt die ganze Sache als
allersubjectivste Geschmackssache dem schwankenden Belieben der Menge zu
überantworten, und die Unsicherheit auf diesem Wege zum Princip zu er
heben, hat er bewiesen indem er in der Ausstellung ein Album auflegte, und
das Publicum zur Niederlegung seiner Ansicht in demselben aufforderte.
Man hätte nun glauben sollen, er und seine Gesinnungsgenoffen hätten
damit von der vernichteten Autorität an die Mehrheit appelliren wollen.
Als aber auf den ersten zwei Seiten, mit Ausnahme einer einzigen Dame,
zahlreiche Stimmen sich einmüthig für die Darmstädter Madonna aus-
sprachen, da citirte eine unbekannte Hand darunter die Verse: „Verstand
war stets bei wen'gen nur zu finden; man soll die Stimmen wägen und
nicht zählen!" Da ist der fehlerhafte Cirkel, in den jeder falsche Schluß
mit seinen weiteren Ableitungen unhaltbar hineintreibt. Wo der schwache
Punkt dieser vorgeblichen Methode steckt, das sprach mit selbstvernichten
der Naivetät ein anonymes Sonett „Hans Holbeins Maria in Dresden"
aus, das in das ausgelegte Buch eingeheftet worden, und dessen vier erste
und drei letzte Verse also lauten:
Du Himmelsbild! Sie (?) wollen dich verneinen,
Verläugnen daß Du von des Meisters Hand!
In öder Forschung trüben Kreis gebannt,
Verirrte, die auf rechtem Weg sich meinen
O heii'ge Demuth! Laß vor Deinem Bilde
Auch nur in Demuth die Versöhnung finden,
Erleuchte uns und sie, die armen Blinden!
Schärfer kann sich der dilettantische Götzendienst, der in Dresden
mehr als irgendwo sonst in der Welt mit einzelnen Bildern getrieben wird,
nicht bekennen. Die Tradition ist unfehlbar, der Gläubige sinkt, über
stemden Zweifel schon zerknirscht, auf die Kniee; wie dem besten Infallibi
listen ist ihm besonnenes Suchen nach der Wahrheit „öder Forschung
trüber Kreis," der Ketzer „gebannt," ein „armer Blinder!"
Wie jemand der zu kunstwissenschaftlichen Forschungen irgendwelche
Beziehungen hat, so naiv, oder der gar keine hat, so stech sein kann, ist
für ein gesund organifirtes Gehirn etwas unverständlich. Mit der Wissen
schaft kann man über ihre Irrthümer und falschen Voraussetzungen streiten;
wer aber die Forschung öde und ihren Kreis trüb nennt, deffen Urtheils
kraft bedarf noch in solchem Maße der durchwärmenden und durchleuchten
den Kraft ihres himmlischen Lichtes, daß ihm kein Urtheil, am wenigsten ein
absprechendes, nicht in einem einzelnen Fall, am wenigsten über ein ganzes
Gebiet, zusteht.
Durch solche kindische Ueberhebung sollte der Dilettantismus gerichtet
sein, doch nicht bloß der blöde, der draußen steht, sondern derjenige welcher
sich noch als schleichender Erbfehler im innersten Kreise der jungen Kunst
wissenschaft vorfindet, und gelegentlich breit macht. Und nach dieser Rich-
tung hin rnöchte ich mir erlauben die Consequenzen aus der Sache zu ziehen,
welche Hr. Fechner nicht daraus zu entwickeln vermocht hat.
Ich habe Eingangs die Madonnen-Frage die fürchterlichste aller kunst
historischen Fragen genannt. Das ist sie; denn keine hat die kunstwissen
schaftliche Forschung so wie sie in der Irre gehend gezeigt. Wir sehen hier
niederschlagender als irgendwo die Nachwehen davon daß die moderne
Kunstwissenschaft vonLiebhabern begründet ist, die vom Genuß au-giengen.
Aus der begeisterten Schilderung hat sich die historisch-krittsche Kunstbe-
trachtung mühsam losgerungen. Daß die Begeisterung vielfach sehr sub
jektiv, übermäßig, unkritisch gewesen wer möchte es läugnen! Warum
aber wollen wir anstehen dieselbe auf ihren rechten Werth, d. h. oft auf
Werthlosigkeit, zurückzuführen? Die Bewunderung der Antiken im vori-