© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
510 Noch einmal der Holöeinzwist.
alles Lernen — ein Lernen durch Selbstausbildung sein samt, ein Steigern
der eigenen Kraft durch wiederholte Uebung ihrer Function, so kann doch
fördersame Anleitung von außen kommen: die practische Bildung des ästhe
tischen Urtheils durch Anschauung wird nicht gehemmt, sondern beschleunigt
durch historische Kunstkenntniß. Waren die ersten Geister des vorigen
Jahrhunderts zu verdammen, wenn sie etwa im Laokoon das Höchste aller
plastischen Kunstschöpfung vor sich zu haben wähnten? Gewiß nicht; für uns
aber, die wir inzwischen die wahrhaft ursprüngliche Schönheit reiner Grie
chenwerke zu Gesichte bekommen haben, wär' es ein Vorwurf, wenn wir noch
länger die wild nach Effekten greifende, von den Schlangenwindungen der
Berechnung tödtlich umgarnte Kunst stark verlebter, abgearbeiteter Perioden
der göttlichen Naivetät der Zeiten des Werdens und Blühens gleichsetzen
wollten. Oder man denke sich Jemanden aufgewachsen allein in Anschauung
und Bewunderung von Gemälden der Caraccischen Schule; offenbar würde
er seinen Schönheitsmaßstab von daher entnehmen, und wenn ihm hernach
auch Rafael beim ersten Begegnen unmittelbar als unendlich überlegen ein
leuchten möchte, würd' es ihm mit Perugino und Francia, oder gar mit den
älteren Meistern nordischer Kunst so leicht gelingen, würde ihm nicht ein
historisch anleitender Hinweis auf die köstliche Naivetät ihres geistigen Ur
sprungs, die so oft nur gleichsam ängstlich unter der Strenge gebundener
Form hervorblickt, behülflich und erfreulich über ihren Werth die Augen
öffnen? Das reflectorisch erzeugte Schöne reproducirender Kunstperioden
spricht vordringlich und gerade deshalb gar eindringlich zur Empfindung des
Betrachters eben durch die Accente, die es überall seinen Aeußerungen auf
setzt: es verweichlicht das Liebliche in's Süßliche, steigert das Ergreifende
zum Erschütternden, vergröbert die Größe zur Massenhaftigkeit, verdünnt
Anmuth zu Niedlichkeit, kurz es giebt allenthalben Uebermaß für Ebenmaß.
Und man sollte nicht das rechte Maß, das zu finden so schwer ist, hernach
gegen das Uebermaß loben dürfen, nicht das reftectirte Licht der Schönheit,
das man zuvor allein gekannt und verehrt, herabsetzen dürfen gegen seine
ungebrochenen Strahlen? Jnconsequenz, wenn sie zum Rechten führt, ist
eine Tugend. —
In der Aesthetik der Dichtkunst wäre ein kritischer Streit wie der
Holbeinzwist gar nicht möglich gewesen und zwar aus zwei Gründen: Ein
mal gerade, weil diese Aesthetik längst mit literarhistorischer Betrachtung
innigst verwachsen ist; dann, weil die elementare Naturseite der Poesie, Ge
danken und Sprache, gleichfalls längst an Logik und Grammatik ihre Theorie
besitzt. Die Aesthetik des Musikalisch- und die des Bildnerischschönen kom
men erst in unseren Tagen zu festerer Begründung und zwar ebenfalls:
weil erstens die Kunsthistorie gerade jetzt aufgerichtet wird als ein Spalier,
Die Krisis in Oestreich.
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an welchem die an sich haltlose Aesthetik sich emporranken kann, und weil
zweitens die elementare Naturseite des Kunstschvnen in Ton und Gestaltung
nun erst wissenschaftlich in Angriff genommen wird. In ersterer Beziehung
hat die bildende Kunst den Vorsprung, denn ihre Geschichte ist schon bei wei
tem besser erforscht als die der Musik, während dem, was in anderer Hin
sicht Helmholtz für die Physik der Tonkunst geleistet, in der unendlich com-
plicirteren Welt sichtbarer Schönheit noch keine Lehre ebenbürtig gegenüber
steht. Doch wär' es schnöder Undank, wollte man hier nicht gerade Fechner's
Bemühungen zu einer „experimentalen Aesthetik" zu gelangen ehrend hervor
heben. Alfred Dove.
Berichte aus dem Keich und dem Uuslande.
Ne Krisis in Oestreich. Aus Wien, 24. Septbr. — In unendlichem
Wirrsal kreuzen sich Oestreichs innere Fragen. An den Verfassungsgesetzen
des Staates zerrt mehr als die Hälfte der Landtage, von denen einzelne sich
berufen glauben zu Neuconstituirung des Reiches. Und nirgends .ein Aus
weg aus dem Chaos! Selbst der Monarch scheint von so banger Ueberzeu
gung erfüllt. Dem Gewoge wider einander streitenden Meinungen und
Leidenschaften bleibt er vielleicht verzweifelt abseitsstehend in Pest oder in
dem nur Jagdvergnügungen entsprechenden Lustschlosse Gödölle. Die Journale
Wiens erweisen sich währenddeß energischer. Sie demissioniren den Träger
des gegenwärtigen Regierungsgedankens, künden triumphirend den Sturz
Hohenwart's! Solch' dem bloßen Wunsche entsprechender Jubel ist jedoch zu
heißblütig. Der nominelle Schöpfer des Wirrsals von heute sitzt immer noch
fest in der Gunst des Kaisers, fester noch in der der „zweiten Regierung".
In der That, an diesen Begriff, den wir einmal bereits erörtert, muß man
anknüpfen, will man Thätigkeit, ja Existenz der jetzigen ministeriellen Staats
macht in ihrer echten Bedeutung erfassen. Die letztere zunächst ist in voller
Gänze ein Werk der geheimen hinter den Coulissen wirksamen Mächte unseres
Staates. Es ist kein Geheimniß mehr, daß das Regime Hohenwart einen
Ueberraschungscoup bedeutete. Selbst dem Throne Nahestehende dachten, als
Potocky mit feinem Latein zu Ende war, ein Verwaltungsministerium, eine
Art „constitutioneller Absolutismus mit starker Hand" werde ihm folgen.
Der Kaiser gab sich als Protector solcher Idee. Mehr noch. Er beauf
tragte Potocky zu ihrer Verlebendigung zu wirken. Der arme Cavalier aus
Galizien handelte damals nach Art anderer Polen förmlich mit Porteseuill es