© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 44
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Noch einmal der Holbeinzwist.
pflegte man in vergangenen Zeiten, die keine eigentliche Kunstwissenschaft
kannten, nur zu häufig zu verfahren; was man Tradition über den Ur
sprung von Gemälden u. s. w. nennt, beruht zum großen Theil darauf, und
sollte tnan heut in der Bestreitung solcher traditioneller Angaben hie und
da zu eifrig vorgehen, so beweist das nur in erfreulicher Weise die Wach
samkeit der Kritik, welche bei noch unsicheren Zuständen einer Wissenschaft
die Rolle der Polizei spielen muß, die lieber einmal einen Unschuldigen auf
ein Weilchen verhaftet, als daß sie einen Spitzbuben frei ausgehen ließe; im
Zweifel besser zuviel Argwohn als übermäßiges Vertrauen. Die Anwendung
auf den Holbeinstreit ist klar: nachdem gegen die Echtheit des Dresdener
Bildes einmal der dringendste Verdacht laut geworden, ntüßte dieselbe von
den Anhängern positiv bewiesen werden und zwar mit anderen augenfäl
ligeren Belegen, als durch die Schönheit oder die Tradition, der leicht nur
ein früherer gleich voreiliger Schluß von Schönheit aus Echtheit oder auch
ein früherer Trug zu Grunde liegen kann. Die Frage aber: „wenn nicht
Holbein, wer soll sie denn gemalt haben?" drückt als Vorwurf der einen
gegen die anderen ausgesprochen, wie wir oben sahen, nur muthlosen oder
faulen Verzicht auf weitere Forschung aus; vielmehr sollten sich beide Theile
genieinsam emsig bemühen, eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu
finden.
Anders ist die zweite Art der Association beschaffen. Man hat int
Geiste zunächst die Gestalt eines bestimmten Künstlers vor sich und wendet
nun den Blick auf ein einzelnes nicht mit zwingender Gewißheit ihm zuge
höriges Werk; ist auch da jede Rücksicht auf die Schönheit dieses Werkes
zur Erhärtung seiner Echtheit so unbedingt verwerflich? Indem man dann
die Frage dahin formulirt, ob das betreffende Werk des Künstlers würdig
sei, hat man offenbar den Begriff von seiner Leistungsfähigkeit und Leistungs
gewohnheit im Auge, den man von den übrigen, am besten bloß von den
sicher beglaubigten Manifestationen seines Vermögens abgezogen. Es bleibt
also immer ein Schluß vom Häufigen auf's Stetige, kurz eine unvollstän
dige Jnduction und ist als solche nicht ganz verdammlich, aber auch herzlich
wenig werth. Weitaus am meisten wird diese Art des Schließens im nega
tiven Sinne angewandt, weil Differenzen augenfälliger sind als Congrnenzen,
so daß man einem Autor ein Einzelwerk als unter, bisweilen über seiner
Würde aberkennt; aber jedermann weiß, zu wie abenteuerlicher Hyperkritik
dies Verfahren z. B. gegenüber den Gedichten des Horaz ausgebildet worden
ist. Denn wie sehr schwanken doch die Leistungen des Individuums um ihre
Durchschnittslinie! Richt die eine, erst ansteigende dann eben fortlaufende,
zuletzt absinkende Bewegung allein, welche der zeitlichen Entwickelung seiner
Gesautmtnatur entspricht, giebt die Höhendifferenzen für sein Schaffen ab;
Der Schönheitsverlust der Dresdener Madonna.
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durch tausend unberechenbare Zufälle und Stimmungen des Tages kann
außerdem ein wellenartiges Auf- und Abzittern des Könnens, ja auch ein
ganz ruckweises Hin- und Hergehen bis ttt dies oder jenes Extrem bewirkt
werden. Mit einem Worte: spricht man ein Werk aus Geschmacksgründen
einem Meister als über oder unter seinem Maße ab, so bleibt man auf dem
Felde der Wahrscheinlichkeit, da über die Einartigkeit individueller Wirkungen
stets nur Wahrscheinliches auszusagen ist. Hätten also die Angreifer des
Dresdener Gemäldes weiter nichts vorzubringen, als daß es ganz oder zum
Theil nicht schön genug sei für Holbein's Hand, so wäre damit so gut wie
nichts erreicht. Bekanntlich aber stützen sie ihr Urtheil vornehmlich auf das
reelle Moment einer absoluten Abweichung in der Maltechnik von der seiner
echten Bilder. Doch darauf brauch' ich hier nicht zurückzukommen. (Vgl.
Crowe in Nr. 37. d. Bl.)
Wir haben zwei Weisen der Verbindung zwischen Schönheits- und Echt
heitsurtheil kennen gelernt. In beiden Fällen war die Echtheitsfrage als im
übrigen offen, die Herkunft des Werkes von dem betreffenden Meister als
nicht geradehin unmöglich gedacht. Wie gestaltet sich nun aber das Schön
heitsurtheil, wenn diese Unmöglichkeit anderwärts zu Tage tritt? Da ist
nun sogleich klar, daß unser ästhetisches Urtheil über ein Kunstwerk nicht im
mindesten davon abhangen darf, ob dies auf die Hand gerade eines bestimm
ten Künstlers, wär' es auch der berühmteste, zurückgeführt werden kann; das
hieße einfach Ursache mit Wirkung verwechseln, da das historische Ansehen
jedes Meisters umgekehrt erst das Ergebniß vorurtheilsfreier Prüfung aller
seiner Schöpfungen sein soll. Wäre also, ohne daß die Madonna von
Darmstadt jemals aufgetreten, von dem Dresdener Bilde sonst nachgewiesen
worden, daß nur eben Holbein es weder erdacht noch gemalt, so hätte das
Gemälde selbst an Schönheit sicherlich nicht die mindeste Einbuße erlitten,
die Gallerie dagegen wäre in gewisser Hinsicht sogar bereichert worden, wenn
man etwa einen bisher unbekannten oder dort vordem nicht vertretenen
Meister dafür hätte ausfindig machen können. Die Erinnerung an sonstige
Verdienste des Künstlers ist und bleibt eine ungehörige Gedankenassociation
beim bloßen Geschmacksurtheil über jedes einzelne seiner Werke. Wohl aber
gesellt sich unabweisbar zu diesem Urtheile, sobald es irgend auf reine Schön
heit lauten soll, die Vorstellung — ob sie nun Erkenntniß sei oder Illusion,
ist völlig einerlei — daß das betrachtete Kunstwerk wirklich ein wahres
Kunstwerk sei, d. h. auf künstlerischem, nicht auf künstlichem Wege entstan
den. Wird alsdann jene Erkenntniß als nur vermeinte, oder genauer, die
Illusion als solche entlarvt und in Folge dessen vernichtet, so erhält das
Geschmacksurtheil einen einpfindlichen Stoß, die Schönheit des vorliegenden
Kunstwerkes erfährt einen erheblichen Abzug, der zwar, nachdem der jede