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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 43
Kunstblatt.
Donnerstag, den (5. Juni 1844.
Mario Fabio Calvi und Celio Calcagnini,
in Bezug auf Raphael Sanzio von Urbino.
In den letzten Lebensjahren Raphaels, während sich
sein umfassender Geist vor seiner nahen Auflösung mit
Ausgrabungen, Vermessungen und der Ausnahme des
alten Roms beschäftigte, kam der gelehrte Graf Celio
Calcagnini, apostolischer Pronotarius aus Ravenna,
dahin, um die vorzüglichsten Schätze in Wissen und
Kunst und die damit am ausgezeichnetsten Begabten
kennen zu lernen. Er besuchte den einzigen Maler, der,
im Kreise seiner Schüler und Mitarbeiter, die Seele
Und der bewegende Trieb einer schöpferischen Thätigkeit
war, wie sie die Welt nicht wieder gesehen hat, in sei
nem von ihm selbst erbauten zwei Stock hohen Palaste
in der Via Alessandrina, nach Papst Alexander IV, jetzt
Borgo nuovo, genannt, und schrieb darüber jenen treff
lichen, nicht genug bekannten lateinischen Brief an sei
nen deutschen Freund Jakob Ziegler, worin das edle,
hohe, liebenswürdig bescheidene Wesen Raphaels in we
nigen Zeilen auf's Trefflichste geschildert ist. Leider sind
die ihm so nahe stehenden geistreichen Freunde, Kardinal
Bcrnardo Dovizio Bibbiena, Verfasser der Ca-
landra, des ersten italienischen Lustspiels, und Onkel der
mit ihm verlobten Braut, Marie Bibbiena, Pietro
Bembo, der Vater und Wiedererwecker der neuern
italienischen Sprache und Literatur, Graf Valdassare
Castiglione, der in seinem Cortigiano so geistreich
gesprächig die trefflichsten Schilderungen seiner Freunde
am Hofe zu Urbino ausführt, Andreas Navagerv
und andere hervorragende Geister jener daran so reichen
Zeit höchst sparsam mit Mittheilungen über Raphaels
Persönlichkeit, Wirken und Leben gewesen, die selbst von
dem' vielschrcibenden Schwätzer Paolo Giovio und dem
pedantischen Antonio Beazzano höchst willkommen wären.
Alle diese vertrauten auf die Unsterblichkeit seiner Werke
und unterließen uns die nähern Umstände und die Ei
genthümlichkeiten eines so reichbegabten kurzen Daseyns
zu schildern, das in seinen Wirkungen unter uns wie
alles Große, Heilige und Schöne, so lange Erinnerung
dauert, fortleben wird. Dreißig Jahre nach dem Tode
Raphaels schrieb Giorgio Vasari nach sparsamen,
unvollständigen und nicht immer verbürgten Mitthei
lungen seiner Zeitgenossen seine Lebensbeschreibung auf,
die für uns beinahe die einzige, höchst schätzbare, aber
nicht immer reine Quelle seiner Lebensverhältnisse ist.
Die näheren Beziehungen Raphaels zu seinen Freunden
und Schülern und den mit ihm lebenden und wettei
fernden Künstlern, Dichtern und Gelehrten, zu seiner
Geliebten, die nur die Tradition als ein schönes Väcker-
wß$hx (iii rornariiia) und mit dem Namen Marghe-
rita bezeichnet, und vor allen«die zu seiner ihm ange
trauten Braüt, Marie Dovizio von Bibbiena und deren
Onkel, dem Kardinal Staatssekretär Papst Leo's X. u. s. w.
sind darin nur sparsam angedeutet, und die genaueren
Züge seines innersten Wesens, die so anziehenden häus
lich vertrauten Schilderungen eines so bedeutenden Le
bens fehlen beinahe ganz, und so muß man jetzt aus
einzelnen Mosaikstiften, besonders aus solchen lebendigen
Mittheilungen, wie aus dem Schreiben des Celio Cal
cagnini, versuchen, sich das Bild des herrlichen Jüng
lings von Urbino zu vervollständigen, weßhalb wir es
dem Leser hier in getreuer Uebersetzung mittheilen.
Celio Calcagnini an Jakob Ziegler.
Daß ich seit meiner Rückkehr nach Italien noch nicht
an Dich geschrieben habe, darfst Du weder für Vergeß
lichkeit halten, noch als Nichtachtung ansehen. Denn
wie wäre es möglich, daß ich meinen grundgelehrten
und trefflichen Aiegler, der mir nicht weniger lieb ist,
als ich mir selbst bin, jemals vergessen sollte? Oder wie
könnte ich in dem Grade träge werden, daß sich Gleich
gültigkeit, zumal gegen Dich und was Dich angeht, bei
mir einschleichen könnte? Nein, von Allen schwebst Du
mir immer am meisten vor Augen, und meinem Her
zenswunsch, mit Dir in vertrautem Umgänge zu leben,