Deutsche Rundschau.
Raphael's Wandgemälde „Die Philosophie", genannt die Schule von Athen. Von
Franz Bole. Mit einer Abbildung. Brixen, Druck und Verlag von A. Weger'S
Buchhandlung. 1891.
Neue Abhandlungen über den Inhalt des großen Werkes der Malerei gehören
zu dem, was immer wieder zu erwarten steht. Ihre Versasser werden nichts Neues
bringen, aber dem Drange gehorchen, das Bekannte in frischer Beredsamkeit zu wieder
holen. Im gleichen Sinne haben sich neuerdings Moritz Carriere in der Beilage der
„Allgemeinen Zeitung" und Kraus in der „Nuova Antologia“ ausgesprochen. Es hat
für diese Freunde und Kenner der antiken Philosophie etwas Beruhigendes, Raphael,
den Maler der himmlischen Schönheit, auch als den der himmlischen Wissenschaft, im
Sinne unserer Zeit, verehren zu dürfen. Franz Bole legt in gefeilter, ruhiger Diction
dar, wie das System der antiken Philosophie in ihren namentlich zu benennenden Ver-
tretern hier sich ausbreite. Schon Plato versetzte die Philosophen in einen Tempel,
Raphael.gab ihnen den gleichen Wohnsitz. Jeder für sich geht seinen Gedanken nach,j
sämmtlich aber zugleich verbinden sie sich zu deren Austausch.
Stände fest, daß Raphael die antiken Philosophen so im modernen Sinne habe!
verherrlichen wollen, in der Art also etwa, in welcher Delaroche im Lemio^ele der Leole
des Beaux-Arts zu Paris die bildenden Künstler sich zusammenfinden ließ, als säßen und
ständen alle großen Maler und Bildhauer, jeder in der Tracht seines Jahrhunderts,
in endlos fortzuführender „Oonversaxione" beieinander, um sich in fortwährendem Verkehre
über das zu verständigen, was sie gethan und gewollt haben, so ließe sich gegen
eine ähnliche Deutung der Schule von Athen nichts einwenden. Anders aber ist die
Frage zu beantworten, wenn wir den in Raphaells gesummter Thätigkeit hervor
tretenden, mit den Jahren wachsenden Drang in Betracht ziehen, seinen Kompositionen
dramatischen Inhalt zu geben, Scenen in ihnen zu bilden, welche einen Umschwung
enthalten, Momente, in denen eine Handlung ihren Höhepunkt erreicht. Sobald wir>
diese Entwicklung Raphaells anerkennen, genügen die bisherigen Erklärungen der Ge
mälde in der Camera della Segnatura nicht mehr. Wir müssen in ihnen den Punkt
suchen, welcher die Darstellung eines Umschwunges enthält. Bei Bole^s und seiner!
Genossen Deutung der Schule von Athen fehlt er, und wir sind gezwungen, uns
umzusehen, ob nicht noch andere Erklärungen des Gemäldes überliefert seien, und
wenn wir finden, daß gleichzeitig mit Vafari's Buche ein ebenfalls 1550 in Rom er
schienener Kupferstich die Schule von Athen als das Erscheinen des Paulus auf dem
Areopage in Athen auffaßt, so haben wir weiter zu fragen, was sich zu Gunsten dieser
Deutung sagen lasse. Und da findet sich, daß die als Aristoteles geltende Gestalt,
welche aus dem Stiche von 1550 Paulus genannt wird, in die Reihe der Dar
stellungen des Apostel Paulus gehört, den in immer anderer, dem allgemeinen Typus
nach aber sich gleichbleibender Gestaltung zu wiederholen, für Raphael, wie es scheint,
eine Lieblingsaufgabe war.
Wir fahren nicht fort, sondern sind auf die Sache nur deshalb eingegangen, um
daran zu erinnern, von wie verschiedenen Punkten aus die Werke großer Meister sich
betrachten lassen, und wie man, wo die gleichzeitigen Deutungen sich widersprechen,
sich erst dann dabei beruhigen dürfe, die eine oder andere Anschauung für die wahr
scheinlichere zu halten, wenn alle Möglichkeiten erwogen worden sind.
Wir würden unserer Aufgabe als Berichterstatter jedoch nur unvollkommen genügen,
wenn wir trotz entgegenstehender Ueberzeugung über den Inhalt des Gemäldes nicht
noch mittheilen wollten, welchem besonderen Ziele der Versasser unserer Schrift zustrebt.
Bole möchte beweisen, daß Raphael nicht bloß den Bestand der griechischen Philosophie,
sondern ihr Emporkommen und ihren Niedergang in der Anordnung ihrer Repräsen
tanten klar machen wollte. Raphael, meint Bole, habe erkannt, wie die gesammte Be
wegung im Scepticismus sich verflüchtigte. Nachdem das energische Zusammenstreben der
großen Geister das gewaltige Phänomen der griechischen Philosophie geschaffen, löste
die Vereinzelung der Denker den Verband endlich wieder auf. Bole weist dies in
einzelnen Figuren nach, deren besondere Stellung ihm von dieser endlichen allgemeinen
„Lockerung" zu zeugen scheint.