© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 43
aufzurückführte für wahr hielt, und daß er, der leidenschaftliche Bewunderer
dieses Meisters, dasselbe für eine des berühmten Namens würdige Arbeit ansah?
4) Nehmen wir für einen Augenblick an daß es ein von unserer Gruppe vcrschie-
denes Werk Raffaels gegeben htzbe welches einen Knaben darstellte. Wo befindet
sich dieß? Eine Marmorstatue verschwindet und verdirbt nicht wie ein Gemälde.
Dennoch hat ein Mann wie Paffavant trotz aller sorgfältigen und ausdauernden
Nachforschungen, trotz zwanzigjähriger Reisen, weder in Italien noch in einem
andern Land Europa's irgendetwas gefunden was für das verlorene Meisterwerk
gehalten werden könnte. Läge denn nicht etwas ganz außerordentliches in
einem Zufall welcher aus der einen Seite den Castiglione zu einem Aus«
druck verleitet der auf ein von Raffaels Arbeit verschiedenes Werk ganz
anwendbar ist, auf der andern Seite um ein untergeschobenes Werk die Zeug
nisse der Tradition, die Erklärungen von Cävaceppi und Lyde Browne, endlich
die Folgerungen gruppirt welche man aus dem Vorhandensein der Abgüsse von
Mengs und von Lotsch und aus der Marmor-Copie in Manchester ziehen kann,
während sich von dem wahren Werke des Meisters keine Spur, keine Tradition,
keine Copie in Marmor oder Gyps, kein geschriebenes Zeugniß erhalten hätte?
5) Alle Künstler welche Gelegenheit hatten unsere Marmor-Gruppe zu sehen, so«
wohl die Maler als auch die Bildhauer, stimmen darin überein daß sie dieselbe
nur für die Arbeit eines Malers, nicht eines Bildhauers halten können. Der
Standpunkt von welchem aus uns der Künstler nöthigt sein Werk zu betrachten
(von oben nach unten); die Stellung des Knaben, welche seine Rückseite fast völlig
unsichtbar macht; das Unbestimmte in den gebrochenen Augen des Knaben — dieß
alles ist den Principien und Neigungen der Bildhauerkunst fremd. Wird dieß zu«
gestanden, so sind wir gezwungen die gleichzeitige Existenz zweier Statuen eines
Knaben anzunehmen, welche beide von einem Maler herrühren. Würde nicht dieses
Zusammentreffen weit wunderbarer sein als die Erhaltung eines Werkes von
Raffael? 6) Endlich scheint uns das Gewicht unserer Beweisführung nichts durch
die Uebereinstimmung ihres Resultats mit dem von Paffavant gewonnenen zu ver
lieren. Indem sich dieser nur auf die Uebereinstimmung stützt welche zwischen dem
Briefe des Castiglione, dem Gypsabguß von Mengs und der Nachricht bei Cava-
ceppi stattfindet, zaudert er nicht zu erklären daß das (für ihn verlorene) Original
des von einem Delphin getragenen Knaben aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem
identisch sein müsse von welchem Castiglione spricht. Wir haben noch außerdem als
Beweis für die Meinung Paffavants das Zeugniß Lyde Browne's und die sehr
wesentliche Schönheit unserer Marmor-Gruppe.
Eine andere Einwendung des Hrn. Verfassers lautet: „Darf man wirklich
den Ursprung der St. Petersburger Skulptur mit völliger Sicherheit auf Raffael
zurückführen? Das bisher bekanntgewordene schriftliche Quellenmaterial reicht
zur positiven Beantwortung der Frage nicht hin. Zwischen dem Briefe Castiglione's
und der Notiz bei Cavaceppi liegen nahezu 250 Jahre." Darauf antworte ich:
Wenn diese Lücke nicht vorhanden wäre, wenn man die Existenz des Werkes von
Raffael Tag für Tag verfolgen könnte, von dem Moment an in welchem es aus
seinen Händen hervorgieng bis zu dem in welchem eS mit der Sammlung Lyde
Browne's in das Museum von St. Petersburg übergieng, so hätten wir eben abso«
lute Sicherheit, aber keine Entdeckung. Die Transfiguration besitzt offmbar einen
höheren Grad der Authenticität als unsere Marmor-Gruppe; aber über die Madonna
della Sedia könnte ebenso gut gestritten werden wie über die letztere. Vasari er
wähnt sie gar nicht, und ihre Existenz wird uns erst 69 Jahre nach dem Tode des
Malers durch das Inventar der Tribüne bestätigt.
Eine dritte Bemerkung des Hrn. Verfaffers hebt hervor daß, selbst in dem
Falle daß die Marmor-Gruppe von St. Petersburg wirklich ein Werk Raffaels sei,
doch noch der Antheil genauer zu bestimmen sein würde welchen dieser Meister an
der Ausführung hatte. Auf diese Bemerkung entgegne ich: Mit Rücksicht auf das
bestimmte Zeugniß Castiglione's, und auf das was wir über das Werk Raffaels
durch die uns von Cavaceppi und Lyde Browne überlieferte Tradition wiffen,
halte ich es für das beste mit Paffavant anzunehmen daß das meiste und wichtigste
an unserer Gruppe vom Meißel Raffaels selbst herrührt, gewisse Einzelheiten jedoch
von Lorenzo Lotti. Als gewiß darf man ansehen daß die Composition und das
Thon-Modell vollständig und allein dem Meister selbst angehören.
Hr. Dobbert fügt hinzu daß es wünschenswerth sei unsere Gruppe in techni
scher Hinsicht mit der Statue des Jonas zu vergleichen, und weitere Nachforschun
gen über die Bedeutung der Worte im Inventar von Raffael Mengs (8. A. R. di
Parma) anzustellen. Diese Bemerkungen haben volle Berechtigung. Denn nichts
darf vernachlässigt werden was eine für die Kunstgeschichte so wichtige Frage noch
weiter aufklären könnte.
St. Petersburg, 25 Nov. 1872.' v. Gedeonow.