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pflichtet betrachten“. — Odysseus’ Rede B 284 ff.
wird treffend als ein Meisterstück schlauer Volks
beredsamkeit charakterisiert (S. 62): „Diese Art,
scheinbar alles zuzugeben, um die Gemüter in die
Hand zu bekommen, ist nur Sache grober Redner.
Der eingeworfene Zwischensatz, der in versteckter
Wendung das entkräftet, was der Hauptsatz ent
hält, ist Shakespeare mit Homer gemeinsam“.
Mit feinem Verständnis ist (8. 83. 90ff.) Helena
gezeichnet, ihr Seelenzustand geschildert, das
Schwanken zwischen Verachtung des elenden Ver
führers und dämonischer Leidenschaft, die sie
doch immer wieder zu ihm reißt. Nur hätten
da, wo Helena von neuem durch Aphrodite be
thört wird, nicht beide als ein Paar von Schwestern
dargestellt werden dürfen, die „wie Kriemhild und
Brunhilde, wie Elisabeth und Maria einander zu
überbieten suchen“ (S. 95). Daß Helena „Tochter
des Zeus“ genannt wird, ist bei Homer ein kon
ventioneller Zug der Sage, kein lebendiges Stück
der vom Dichter erzählten Handlung.
Am meisten Widerspruch dürfte der Vers. da
erfahren, wo er, seinem ausgesprochenen Plane
entgegen, doch in die philologische Behandlung
der homerischen Frage eintritt und diejenigen
Stellen bezeichnet, die er für unecht hält. oder
an denen er glaubt, daß ursprünglich vorhandene
Partien ausgefallen seien. Weil Odysseus (B 169 ff.)
nach dem ungünstigen Verlauf der Volksversamm
lung verzweifelt dasteht, so meint Grimm (S. 45),
daß er es gewesen sein müsse, „auf dessen Autorität
hin Agamemnon dem Volke den Traum anders
erzählte, als er ihn empfangen hatte, sodaß der
große Fehlschlag Odysseus zur Last fiel“, und
daß Verse verloren seien, in denen dies erzählt
war. Den siebenten Gesang (durch den allerdings
der von Grimm vorausgesetzte Plan der Handlung
nicht gefördert wird) hält er (S. 205) für „das
Werk eines rhetorisch begabten Homerkundigen,
der vorhandene Fragmente vielleicht zusammen
zufügen hatte“. Dafür seien gerade hier wertvolle
echte Stücke verloren gegangen, deren Erhalt mit
ziemlicher Bestimmtheit angegeben wird. Erst
zu Ende des Gesanges, etwa von 345 an, „scheinen
die Teile der echten Dichtung reicher zusammen
zustehen. Das Begraben der Toten klingt schon
homerischer, der Bau der Mauer dagegen enthält
vielleicht schon kein fremdes Wort mehr“ (S. 207).
Es wäre leicht, über diese und ähnliche Urteile,
deren Verkehrtheit keines Nachweises bedarf, zu
spotten oder dem Vers. ein entrüstetes ‘Ne sutor
supra crepidam’ zuzurufen, von dem Ästhetiker zu
verlangen, daß er die kritische Aufgabe uns Philo
logen überlasse. Aber das wäre ungerecht und
thöricht. Denn gerade dadurch, daß Grimm wider
seinen Wunsch und sein Versprechen, rein durch
die Macht des Stoffes dazu geführt wird, über die
Entstehungsweise der Dias, über das relative Alter
ihrer Gesänge Vermutungen aufzustellen, beweist
er unwiderleglich, daß liebevolle Würdigung der
poetischen Schönheit und wissenschaftliche Analyse
der überlieferten Gestalt des Epos nicht zwei ge- *
trennte, noch trennbare Thätigkeiten sind, daß
auch die erste nicht ernsthaft geübt werden kann,
ohne von selbst in die zweite überzugreifen. Wir
wünschen jedem Philologen, der Homer zu be
handeln hat, etwas von der Phantasie und der
Kraft des dichterischen Nachempfindens, die Her
mann Grimm auszeichnen; aber wir wünschen auch
jedem Schriftsteller, der für einen weiteren Kreis
gebildeter Leser Homer unbefangen auszulegen
unternimmt, etwas mehr wohlwollende Achtung
für die Aufgaben des philologischen Verständ
nisses, als in dem hier besprochenen Buche uns
entgegengetreten ist.
Kiel. Paul Dauer.