Full text: Zeitungsausschnitte über Werke von Herman Grimm: Homer

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4. April. DEUTSCHE LITTERATURZEITUNG 1896. Nr. 14. 
treten beginnt. Zugleich wird ausgeführt, wie 
die künstlerische Entwickelung dieses Charakters 
das Epos dreitheilig erscheinen lässt (I 241). In 
der Art, wie Grimm dann die Kunst des Dichters, 
überschauend und im Einzelnen, reproduzirend 
und kommentirend, aufdeckt, giebt er auf den 
50 Seiten, die dem 9. Gesang gewidmet sind, 
zugleich Abschluss und Gipfel des ersten Bandes. 
Der weite Ausblick von den höchsten Gesichts 
punkten aus, und dann wieder das Sicheinfühlen 
in die einzelne Situation und ihre künstlerische 
Stimmung, und ihre lebendigste Wiedergabe mit 
den einfachsten sprachlichen Mitteln: das müssen 
Viele mit Bewunderung gelesen haben. Wie 
wirken im Zusammenhang die wenigen Worte, 
die gebraucht werden, den Gang der Gesandten 
zu Achill zu beschreiben (I 251)! In diesem Stil 
hat Jacob Grimm die Paraphrase des Waltharius 
geschrieben. Und so lebendig wird Achill dann 
uns nahe gebracht, dass wir Grimms Versiche 
rung zu Anfang des zweiten Bandes: »Achill ist 
mir unmittelbarer gegenwärtig als Faust und 
Hamlet« ganz selbstverständlich finden. Homer 
aber wird hingestellt als der, der in dichterischer 
Ahnung in Achill »den schicksalbildenden Geist 
des griechischen Volkes« verkörpert hat (I 266). 
In die vSphäre dieses letzten Gedankens führen 
die einleitenden Bemerkungen des zweiten Bandes 
wieder ein. Wie der stetige massenhafte Zu 
wachs an historischen Ereignissen und Personen 
die künstlerische Auswahl des Typisch-Mensch 
lichen immer nothwendiger machen, die Geschicht 
schreibung der Kunst grossen Stiles immer mehr 
nähern muss. Und in dem »Abschied« am 
Schluss, da, wo er von Natters Walther-Statue 
in Bozen spricht, kommt Herman Grimm noch 
mal darauf zurück; sodass der Band auch äusser 
lich von diesen grossen Gedanken wie von einem 
Rahmen zusammengehalten erscheint. Innerlich 
ist ja das Buch von ihnen ganz und gar getragen; 
das Ewigmenschliche, Zeitlose und darum allen 
Zeiten Verständliche in Handlungen und Personen 
der Ilias herauszustellen ist sein erster und letzter 
Zweck. Von diesem Gesichtspunkt aus sind die 
häufigen Parallelen mit Dichtungen auch modern 
sten Datums zu beurtheilen: vertrüge die homeri 
sche Dichtung dergleichen nicht, liesse sie sich 
nicht so energisch ins Licht unserer und jeder 
kommenden Gegenwart stellen , so wäre sie 
eben nicht was sie ist. Uebrigens sind die 
Hinweise vor Allem auf Shakespeare von der 
grössten Wichtigkeit auch darum , weil noch 
immer chronologische Anstösse, überhaupt Wider 
sprüche im Thatsächlichen von den Meisten gar 
zu leicht als Beweise gegen die Einheit des Ver 
fassers angesehen werden, während gerade grossen 
Dichtern die folgerichtige Charakteristik ihrer Per 
sonen mehr am Herzen liegt als eine ganz unan 
greifbare Verknüpfung der Ereignisse. 
In der Betrachtung der einzelnen Gesänge 
wird natürlich die Methode des ersten Bandes 
im zweiten fortgeführt. Auch hier liegt der 
Hauptaccent auf dem Nachweis, wie mit einer 
immer aufs Neue bewunderungswürdigen Kunst 
die Charakteristik der einzelnen Personen in 
»Fragmenten« über die verschiedenen Gesänge zer 
streut ist, bis zuletzt jede der für die Composition 
wichtigen Figuren in deutlicher Vollendung vor 
dem innern Blick des Lesers steht, und wie vor 
Allem hierdurch die einzelnen Theile vernietet 
und verklammert erscheinen. Nur für Helena 
und Andromache hat Grimm seinerseits diese 
Fragmente aus ihrem Zusammenhang gelöst und 
zu eigenen Bildern zusammengefügt, zugleich die 
Odyssee und die neuere Litteratur in grossen 
Zügen hinzunehmend, sonst folgt er dem Dichter 
von Gesang zu Gesang und fasst den Zuwachs 
der Charakteristik wiederholt an den für jede 
Person bedeutsamen Momenten des Gedichts zu 
sammen. Und an der Art, wie das geschieht, 
fühlt der Leser bald, woher dem Kommentator 
das intime Verständniss für die Kunst des Dichters 
kommt: sie spiegelt sich in seinem Kommentar. 
Wie die Charakteristik Achills künstlerisch ganz 
anders angelegt ist, als die aller Andern und 
warum, erörtert er zu Ges. 10. Desgleichen 
wie Ilias und Odyssee hierin überhaupt ver 
schieden verfahren; daher und weil sie den Cha 
rakter des Menelaos weiterführt, kommt er zu 
dem Schluss, dass die Doloneia im Zusammen 
hang des Ganzen nicht fehlen darf. Die Behand 
lung der beiden Atriden ist mit besonderer Sorg 
falt verfolgt und in ihrer Feinheit und Konsequenz 
aufgedeckt; noch deutlicher fast tritt uns der 
Kunstverstand des Dichters zuweilen bei Per 
sonen zweiten und dritten Ranges, den Paris und 
Pandaros und Dolon vor Augen. Dann wieder 
wird uns die »Kontinuität und Reziprozität«, die 
Schiller an der Ilias bewunderte, an der Grup- 
pirung, der Beziehung und Ergänzung, der feinen 
künstlerischen Abstimmung auf einander in Cha 
rakteren und Ereignissen nachgewiesen: der Reich 
thum, den der Kommentar hier aufzeigt, erscheint 
unerschöpflich. Die Götterscenen (schon im ersten 
Bande eine der geistvollsten Partien des Werkes) 
werden in demselben Sinne wie dort weiter be 
sprochen, das künstlerische und menschliche Ver 
hältnis Homers zu diesen märchenhaften Elemen 
ten seiner Dichtung charakterisirt. Die ausge 
führten Vergleiche, so überaus bezeichnend für 
die individuelle Kunst eines Dichters, werden in 
diesem zweiten Band noch eingehender analysirt 
als im ersten. Fast zu jedem Gesänge ist ihnen 
ein besonderer Abschnitt gewidmet. Die Frage 
dagegen, wieweit Homer etwa schon vorhandene, 
im Volk entstandene Dichtung benutzt habe, er 
scheint unwesentlich vom künstlerischen Stand 
punkt: die Arbeit des Dichters hat auch fremden 
Stoff zu seinem völligen Eigenthum gemacht 
(S. 265). Das Nibelungenlied wird von Neuem
	        

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