© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 34
aus : Tagespost,Graz,Nr. 168,
1872,Jul.17, S. 1-2
Mn ausgewählte Essays zur Einführung in das
Studium der modernen Kunst, von Hermann
Grimm. Berlin, Ferd. Dümmler's Verlagsbuch
handlung. 1871.
Der berühmte Verfasser deS BucheS „Michel An-
gelo" legt ur.S zehn kunfihistorische Essays vor, welche
ver ausgedehnten Beschäftigung deS Verfassers auf die
fern Gebiete - Hermann Grimm trägt moderne Kunst
geschichte an der Universttät in Berlin vor - ihre Ent
stehung danken. Nicht allen Aufsätzen würden Wir glei
chen Werth einräumen. „Die VevuS von Milo" ist
weniger ein Essay als eine flüchtige, in lyrischem Styl
gehaltene Causcrie. Auch der Essay „Raphael und
Michel Angelo" - der Verfasser schrieb denselben 1857
vor feiner ersten italienischen Reise, sein Buch „Michel
Angelo" erschien 1860 - der sich zumeist auf Guhl's
„Könstlerbriefe" stützt, entbehrt, abgesehen von dem Man
gel an formaler Abrundung, einer helleren intensiven
Beleuchtung der künstlerischen Thätigkeit dieser beiden
Heroen, die man doch nach dem Titel erwarten durfte.
Da- Gebotene ist zum größten Theile biographischer
Natur. Der Essay „Carlo Saraceni" ist insofern von
hohem Werthe, als darin der Verfasser ein ungern und
Zeitalter" gehören zu den inhaltttefstm und formschönsten
Produktionen der gesammten modernen Kunst. „Berlin
und Peter von Cornelius" bespricht nicht günstig die
Stellung, welche die preußische Hauptstadt zu dem Alt
meister deutscher Malerei einnahm, während Grimm tu
dem folgenden Essay uns als geistvoller Cicerone bei Be
trachtung der Cartons dieses Künstlers leitet. Den Schluß
der Sammlung bildet dann eine in ihren Ausgangspunk
ten sowohl, wie in der Betrachtungsweise vertiefte Cha
rakteristik Schinkel'S und dann „CurtiuS über Kunst
museen". Dieser letzte Aufsatz verdient wohl nicht den
Namen einrS Effay'S; er nimmt sich nur wie ein Nach
wort auS, worin der Verfasser Zeugniß ablegt für die
Wärme, mit der er den modernen Kunstbestrebungen an
hängt uud wie wenig er geneigt ist, diese dem Kunstleben
Griechenlands nachzusetzen.
Auf zwei Punkte mache ich nun noch aufmerksam.
Es ist eine gewisse Kühle, mit der sich H. Grimm zur
antiken Kunst stellt. DaS Ideal dieser Kunst ist nicht
mehr das unsrige und da - meint Grimm - werde eS
deshalb schwer, unS tu daS Wesen antiker Kunstschöpfun
gen völlig zu versetzen; es können diese unser Herz nicht
mehr ausfüllen; - daS wird nur ganz hingenommen,
wo Geist von unserem Geiste, Fleisch von unserem Fleische
ist . 'I daS ist aber nur der Fall in den Schöpfungen der
deshalb wenig beleuchtetes Gebiet betritt: dir Zeit deS
Verfalles der italienischen Kunst nach ihrer höchsten
Blüthevperiode. Carlo Saraceui, ein Schüler Cara-
vaggio'S, kaun durch seine schöpferische Thätigkeit nicht
interesstrm, umsomehr aber fällt daS Interesse auf die
Zeit, die Verhältnisse, unter welchen er arbeitete.
„Goethe'S Verhältniß zur bildenden Kunst" bringt
eigentlich wenig neue Gesichtspunkte; dagegen sind zwei
glanzvolle Arbeiten: „Albrecht Dürer" und „Jakob
ASmuS CarsteuS". Ja der Monographie Dürer'S trifft
der Verfasser den Kern der Sache; die künstlerische In
dividualität unseres deutschen Raphael tritt in voller Be
leuchtung hervor; kein Zug seines Wesens bleibt uns
fremd, und der Gesichtspunkt, unter den Grimm seine
Betrachtung stellt, ist nicht nur glücklich gewählt, er ver
leiht der Auffassungsweise auch den Stempel der Origi
nalität. Die Wärme, mit der Grimm für Carstens ein-
tritt, ist vollkommen gerechtfertigt; wer je Gelegenheit
hatte, die anspruchslose, bis in'S Peinliche jeden Auf
wand von Mitteln meidende und MeS nur aus eigenster
voller Tiefe ihrer Genialität schöpfende Künstlernatur
in ihren Schöpfungen zu bewundern, wird Grimm völlig
beistimme».
Dir beiden Zeichnungen Carstens': „Homer trägt
den Griechen seine Gedichte vor" und „DaS goldene
modernen Kunst. . . Ich möchte dem widersprechen; die
Schönheit ist zeitlos und es wird ein Zeugniß unserer
Armuth sein, wenn wir unsere TageSstimmung im An
schauen nicht überwinden. Wer einmal - auch nur vor
einer MaSke „unserer lieben Frau von Milo" stand, der
hat doch kaum die „leise Stimme" in sich gehört, „es
sei für unS kein Herz mehr in dieser Schönheit", - wie
kaum vor einem modernen Kunstwerke wird er hier in
jene Stimmung versetzt, welche Schiller als die ästhetische
bezeichnet, wo vir aller unserer leidenden wie thätigen
Kräfte in gleichem Grade Meister, die „hohe Glrich-
müthlgkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und
Rüstigkeit verbunden", in unS sindrn. Der Betrachtung
von Schöpfungen der modernen Kunst dagegen empfinden
wir nur in seltenen Fällen eine „rein ästhetische Wirkung";
eS bleibt meist ein mehr oder minder großes Residuum
zurück, daS pathologischer Natur ist. Ich bin dabei weit
entfernt, die moderne Kunst zurückzusetzen gegen die antike;
au§ dem Herzen seiner Zeit heraus dichtete und meißelte
der Grieche feine Kunsifchöpfungen, thun wir desgleichen,
- jedes Dilkttircu in anderen Zeitaltern trügt inneren
Zwiespalt an sich, weil doch Niemand dem Idcenlebrn
seiner Zeit entfliehen kann oder teuf; aber den Weg,
der zum hellenischen Geist zurückführt, dürfen wir nie
verlieren, und wahrhaftig, ich meine - im Gegensatze z»
s Grimm - eine große Kunstschöpfung des classischeu Alter
thums dürste nuS nicht feil sein gegen mehr als eine
Madonna Murillo'S und Raphael'S.
Mit der Polemik H. Grimm'S gegen Kunstakade
mien, wie sie mehrmals in dem Buche zu Tag: tritt, biu
ich vollkommen einverstanden. Kunst ist daS freieste Ele
ment, man züchtet sic nicht. Wo sie auftritt, siegt sie durch
eigene Kraft. Abgesehen von dem Dilettantismus, den
solche Akademien großziehen, wirken sie auch nicht för
dernd auf Ausbildung der künstlerischen Individua
lität. Der Staat wird die Kunst mehr fördern, wenn
er durch Anlegung von Kunstmuseen den ästhetischen Sinn
feiner Bürger weckt vnd ausbildet und wenn er durch
Ankauf von Kunstschöpfungen daS wirkliche Talent un
terstützt und fordert. „Selbst ist der Mann", das zieht
nicht nur im praktischen Leben große Charaktere, sondern
auch auf dem Gebiete der Kunst. . . .
Da GrimmS EssavS fast alle Richtungen der mo- '
dcrr.en Kunst berühren, so eignet sich sein Buch wirklich,!
ein leicht, aber in ziemlich scharfen Umrissen skizzirteS!
Bild der modernen Kunst zu geben und so in daS Stu
dium derselben einzuführen. H. J.