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Magazin für die Literatur des Auslandes.
No. 51.
Ein tüchtiger Aesthetiker hat ein tiefes Gefühl dafür, daß
Künstler und Kunstwerke in dem Medium geschaut werden müssen,
das ihr Werden umfangen hat. Wenn Herman Grimm seinem
ersten Essay, dem über die „Venus von Milo", den künst-
lerischen Abschluß geben will, so versetzt er uns auf die zauberische
Insel im Aegeischen Meer, dorthin, wo das Heiligthum der unent-
weihten Göttin gestanden und sie dereinst vor den staunenden
Blicken ihrer Gläubigen in entzückender Erhabenheit thronte.
Da hat sie anders ausgesehen, als nach der Berührung von
rohen Händen, als nach der Eingrabung und Ausgrabung! Sie
war ein Moment des höchsten Lebens einer Nation gewesen, sie
hatte mitgelebt mit den Ihrigen, weil sie von der ganzen Em
pfindung ihres Volkes getragen ward. Und ähnlich, wie mit der
hellenischen Gottheit, ging es mit Sein und Schaffen eines
Raphael und Michel Angelo. Der Verfasser schildert diese
Beiden, indem er das Rom und das Florenz ihres Zeitalters
schildert. Ein farbenreiches Bild jener Tage rollt er in kurzen
Umrissen vor uns auf. Die Mediceer in Florenz, die -Päpste in
Rom seit Julius II. und Leo X. und die Welt, die zu ihren
Füßen lag oder gegen sie ankämpfte; die politischen, die sozialen
und die kirchlichen Zustände der Epoche bilden die Staffage zu
diesem reizvollen Gemälde, aus dessen Rahmen die Künstler in
der Größe ihrer lebendigen Erscheinung hervortreten. Ihr mensch
liches Theil neben dem unsterblichen ist nicht verdunkelt; der
Zauberglanz, der die alten Meister umstrahlt hat; wurde zum
hellsten Lichte eben durch ihre Persönlichkeit gesteigert, es schafft
nichts Großes, wer nicht ein großer Mensch ist!
Der Verfall giebt sich kund, wenn die Macht der Persönlich
keit abnimmt. So ist es in der staatlichen Entwickelung, so ist
es auch im Reiche der Kunst. Ein Caravaggio, ein Carlo
Saraceui. welchem Letzteren der Verfasser eine ausführliche
Studie gewidmet hat, wirkten in einer Epoche des Verfalls, weil
sie nicht im Stande gewesen sind, die Schranke der Zeitgenossen
schaft zu durchbrechen und den Bestrebungen derselben einen
neuen künstlerischen Gehalt einzuhauchen. Der höhere oder ge
ringere Grad der Technik kommt hierbei wenig in Betracht. Im
Gegentheil, es ist oft eine überfeinerte Technik das deutlichste
Anzeichen des Verfalls. Mit einfachen Mitteln haben die
größten Meister Unvergängliches hervorgezaubert; es waren nicht
Aeußerlichkeiten, welche ihnen den erhabenen Rang anwiesen und
sicherten; es war der tiefe seelische Zug, der sie mit den höchsten
Idealen der Menschheit und den gewaltigsten Aufgaben ihres
Zeitalters verband. Herman Grimm hat an Albrecht Dürers
edelem Charakterkopf dies am kräftigsten dargethan. Er stellt für
die Aera der Reformation Luther, Hutten und Dürer als das
Dreigestirn des damaligen Deutschlands zusammen; der Maler,
Zeichner und Kupferstecher von Nürnberg ist zugleich der Dichter
seines Zeitalters gewesen, mit liebevoller Hingabe an den Stoff
hat er sich in Sein, Denken und Empfinden der Menschen um
ihn her versenkt und ihrem eigensten und innersten Kern zur
leicht erkennbaren Erscheinung verholfen. Darin steckt der eigen
thümliche Werth dessen, was er im Portrait geleistet hat. In
dem er seine Individualität in all' seine Schöpfungen ergoß, hat
er die unscheinbarste seelisch geadelt und jedweder Arbeit seines
Genius bleibende Bedeutung errungen.
Der neueren deutschen Kunst ist in den vorliegenden Stu
dien mehr als die Hälfte des Raumes gewährt. Vom Stand
punkte Herman Grimm's ist es natürlich und aus kulturhisto
rischen Gründen ebenso sachgemäß, daß er diesen Theil der Essays
mit seinem 1871 im Berliner wissenschaftlichen Verein gehaltenen
Vortrage über „Goethe's Verhältniß zur bildenden
Kunst" eingeleitet hat. Nicht was Goethe im Einzelnen auf
diesem Gebiete anregend gewirkt, sondern im Großen und Ganzen
sein dichterisch-künstlerisches Interesse an den Fortschritten der
deutschen Plastik und Malerei, sein Hand in Hand gehen mit
den Gebrüdern Boisseröe, der feine ästhetische, echt beschauliche
Sinn seines Waltens hat unzählig viel Tüchtiges in's Dasein
gerufen und eine ansehnliche Menge von Talenten gefördert.
Wenn ein Künstler, wie Jacob Asmus Carstens, dessen Zeich
nungen eine neue Epoche in der deutschen Malerei begründet
haben, bei den Zeitgenossen nicht die verdiente Würdigung fand,
obwohl er doch die lebensvolle Natur wieder zu Ehren gebracht,
so hat Goethe an dieser Vernachlässigung keine Schuld gehabt,
insofern sein Einfluß nicht allmächtig war; aber er hat doch da
für gesorgt, daß Carstens' artistischer Nachlaß in Weimar ange
kauft ward; er hat die Aufmerksamkeit der gebildetsten Kreise
Deutschlands auf die Blätter dieses urwüchsigen Meisters gelenkt,
ihm eine Stätte für alle Zukunft bereitet! Am nächsten steht
Carstens an kulturhistorischer Wichtigkeit der ftüh bereitwillig
anerkannte Peter von Cornelius, der die oberste Höhe der
neudeutschen Malerei gewaltigen Schrittes erstieg. Herman
Grimm hat ihn mit zwei Essays bedacht: zuerst mit einer all
gemeinen Schilderung seiner Verdienste unter dem Titel „Ber
lin und Peter von Cornelius", dann in einer besonderen
Studie über die Cartons unseres großen Malers das Haupt
feld seines Schaffens beleuchtet. Grimm's Auffassung ist würdig,
gehaltvoll, gerecht und unbefangen; sie läßt inzwischen das reli
giöse Moment bei diesem so innerlich religiös gestimmten Meister
nur als Nebennmstand zur Geltung gelangen, während es wohl
schwerlich bestritten werden kann, daß die katholischen Motive
bei Cornelius eine sehr maßgebende Stelle eingenommen haben.
Dennoch ist Grimm auch darin im Recht, daß er den Vorwurf
einer im Dienste der Konfession stehenden Kunstübung mit Wärme
von Cornelius abwehrt. Wer so groß von der Kunst dachte, wie
dieser Mann, hat nicht dogmatische Formeln verherrlichen wollen.
Das hat die Sammlung seiner Cartons ein fiir alle Mal klargestellt.
Der Vortrag, welchen Herman Grimm 1867, wenige Tage
nach Cornelius' Hinscheiden, bei der Schinkel-Feier zu Berlin ge
halten, reiht sich an die beiden, Cornelius gewidmeten Essays
bedeutungsvoll an. Er ward Schinkel zu Ehren gesprochen
und er setzt das in den vorhergehenden Abhandelungen behan
delte Thema unmittelbar fort. Ein enger Zusammenhang ist
hier deutlich sichtbar gemacht. Grimm weist in der Einleitung
auf Goethe und auf Cornelius hin und erklärt: „wenn Goethe
der Dichter der neueren Zeit und Cornelius ihr Maler gewesen
ist, so muß Schinkel als der Architekt des neueren Deutschlands
ebenbürtig ihnen beiden zugesellt werden." Der Baukünstler
hat „aus der ganzen Fülle des deutschen Geisteslebens Nah
rung entnommen für seine Kunst"; er war nach dem Urtheile
seiner Zeitgenossen seinen eigenen Schöpfungen überlegen, d. h.
er hat sich nie erschöpft, er ist, wie feine uns aufbewahrten Skizzen
verrathen, unaufhaltsam und rastlos gewachsen; er hat sein per
sönliches Streben als ein Moment in der Geschichte der Kunst
entwickelung begriffen und den Werth des Studiums der Kunst
geschichte, den er an sich selbst erfahren hatte, daher immer eifrig
empfohlen und lebhaft betont. So stand er auf den Schultern
der gesammten Vergangenheit und hat für eine weite Zukunft
gearbeitet, nicht einsam und allein, sondern im Anschluß an die
verschiedenartigsten Aeußerungen und mannigfache Pfleger des
künstlerischen Bewußtseins. So ist er neben Goethe und Cor
nelius einer der hauptsächlichsten Träger der „Wiedergeburt"
i unserer deutschen Kunst. Von Albrecht Dürer bis zur Schwelle
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^0. 51. Magazin für die Literatur des Auslandes.
des 19. Jahrhunderts hatte es keine nationale Kunst der Deutschen
gegeben; mit jenem Dreigestirn der Neuzeit ist sie wieder lebendig
geworden und hat einen gar buntfarbigen Charakter enthüllt.
Zwar nicht einen rundweg abgeschlossenen — Schinkel's Thätig
keit, die vor keinem Versuch zurückschreckte, bezeugt es — es war
eine sammelnde Thätigkeit, und sie hat in dem Berliner Museum,
in einem Kolossalbau griechischen Stils, ihren würdigsten Aus
druck gefunden.
Was nun Kunstmuseen überhaupt zu bedeuten haben, ist
Grimm's letzte Studie, eine Besprechung des 1870 vom Pro
fessor Ernst Curtius über diesen Gegenstand gehaltenen Vor
trages. Sie sollen Tempel der Kunstgeschichte sein, aber
Grimm ergänzt den verehrten Lehrer sehr richtig, wenn er diese
Tempelhallen nicht aus die Antike und deren Nachbildungen be
schränkt, sondern ihre Umfassungsmauern so ausdehnt, daß auch
die Helden der neueren Klassicität, ein Raphael und ein Michel
Angelo, ein Dürer und ein Holbein daselbst hervorragende Plätze
empfangen. Nicht bloß die griechische Kunst, cs hat alle Kunst,
alle, die in eigenthümlichen Typen das Schönheitsgesühl der
Menschheit verkörpert hat, Anspruch auf gastliche Wohnstatt
in den Heiligthümern des ästhetischen Geschmacks. Ein Uni
versum soll sich dort öffnen vor unseren Blicken, und dieses Uni
versum der Schönheit ist eine hohe Schule, aber durchaus
keine überflüssige Schule der Bildung, die den Menschen
jedes Standes und jedes Geschlechts und den Bürgern jedweder
Zeit köstlichen Trost, lebensfrische Erhebung und Thaten weckende
Anregung schafft. Trauttwein von Belle.
Die Notenschrift des Mittelalters.*)
Wir haben hier die Forscherarbeit eines jungen Mustkge-
lehrten über einen der dunkelsten Abschnitte der neueren Musik
geschichte vor uns. Es ist erfreulich, zu sehen, wie sich immer
mehr und mehr Pioniere dieser Wissenschaft einfinden, um das
Dickicht zu lichten, das uns noch am Eindringen in das Ver
ständniß früherer Epochen hindert. Die hier behandelte Periode
des 12. und 13. Jahrhunderts anlangend, so sind diese
Hindernisse gar mannigfacher Art; das hauptsächlichste aberliegt
in der damals gebräuchlichen Notenschrift, da wir dieselbe
nicht mit Sicherheit zu entziffern vermögen. Diese, sogenannte
Mensural-Notenschrift — welche als die wesentlichste Vorstufe zu
der heute gebräuchlichen Notation zu betrachten ist — hatte sich
allmählich aus den Schriftsystemen früherer Zeiten entwickelt.
Der Gedanke, die Noten auf Parallellinien zu setzen, um durch
höhere und tiefere Stellung die Tonhöhen zu unterscheiden, war
bereits lange in Aufnahme gekommen; andererseits war in den
sogenannten „Nemnen“ (eine Notenbezeichnung durch verschieden
geformte Striche) eine ungefähre Unterscheidung der längeren
und kiirzeren Zeitdauer der Töne vorhanden.
Beide Systeme hatten genügt für eine Epoche, in welcher
ausschließlich der einstimmige Gesang existirte oder nur die
ersten, ungemein dürftigen Versuche einer mehrstimmigen Musik
auftauchten. Als aber diese mehrstimmige Musik — der Contra
punkt — nicht nur herrschend zu werden, sondern auch den An-
laus zu einer ungemein reichen Entwickelung zu nehmen begann,
da traten ganz andere Bedürfnisse für die Notation hervor. Man
strebte jetzt danach, einer jeden der zusammenwirkenden Stimmen
*) Die Mensuralnotenschrift des 12. und 13. Jahrhunderts. Von
Gustav Jacobsthal. Berlin, Julius Springer, 1871.
einen eigenthümlichen, selbständigen Tongang — statt eines
sklavischen simplen Begleitens der Hauptstimme — zu geben; die
Stimmen sollten sich möglichst stark von einander unterscheiden,
nicht nur tonisch, sondern auch rhythmisch; daher wurde von
jetzt an der Zeitwerth der Töne nach einem bestimmten Maaß
(mvn8uru) gemessen, und vielfache Unterschiede ihrer Längen und
Kürzen statnirt; und in Folge dessen mußte eine neue Notirungs-
art eingeführt werden, welche alle diese Unterschiede deutlich be
zeichnete. Man begann, — wie unser Verfasser in der Einlei
tung aufweist — mit einer Verschmelzung der Neumen und der
Linicn-Notirung, und bildete nach und nach ein complicirtes
System aus, weit complicirter als unser heutiges, da man, wie
es stets bei neuen Erfindungen zu gehen pflegt, erst spät auf
jene einfachen, einheitlichen Grundsätze kam, die unsere moderne
Notenschrift auszeichnen. Wie gesagt, allmählich entwickelte
sich die Mensural-Notation, und daher jene Schwierigkeit und
Unsicherheit der Entzifferung bei den Werken des 12. und 13.
Jahrhunderts. Jeder neue Lehrer und Tonschöpfer brachte neue
Modistcationen und Reformen hinein, und in den hinterlassenen
Traktaten jener Meister finden wir die Schrift bald so, bald
anders gelehrt. Nun weiß man aber bei den meisten Compo-
sttioncn aus jener Epoche nicht genau Zeit und Ort ihrer Ent
stehung, hat also keinen Anhaltepunkt dafür, ob dieselben nach
dem einen oder nach dem andern Schriftsystem zu lesen sind.
In den späteren Zeiten geben die festen Regeln des Contra
punkts oft den Aufschluß über dunkle Stellen in der Notirung;
in jenen Jahrhunderten jedoch waren auch die contrapunktischen
Gesetze noch zu unausgebildet und zu schwankend, um eine Stütze
für die richtige Lesung bieten zu können. Nehmen wir hierzu die
oft unklare oder zweideutige Ausdrucksweise des Mönchslatein,
in dem die Traktate geschrieben sind, so finden wir, wie sich die
Verwirrung bis zu einem abschreckenden Grade steigert. Der
einzige Franco von Cöln (Anfang des 13. Jahrhunderts), der
berühmteste Mann aus dieser Periode, giebt uns eine deutliche
Auseinandersetzung eines bestimmten Notirungssystems.
Herr Dr. Jacobsthal nun wagt es, als einer der Ersten,
jenen steinigen Boden zu durchpflügen. Er sammelt die in den
Traktaten auffindbaren Systeme, stellt sie nebeneinander, und
sucht die Dunkelheiten durch Combinationen aufzuhellen, wobei
er vorsichtig genug verfährt, und, wie es der strengen Wissen
schaft ziemt, das nicht unbedingt Nachweisbare nur als Ver
muthung hingestellt sein läßt. Dieser Darstellung geht eine Ein
leitung voran, die den Stand der musikalischen Dinge von da
mals im Allgemeinen erörtert. Er nennt sein Wcrkchen einen
„fast verschwindend kleinen" Beitrag zur Lösung der gewaltigen
Aufgabe, welche sich die Musikgeschichte in Betreff jener Jahr
hunderte zu stellen hat. Aber keine solcher Arbeiten ist un
wichtig , möge sic auch noch so wenig Positives an's Tageslicht
fördern. Und gerade der erste, der die Hindernisse wegzuräumen,
der den Acker erst urbar zu machen versucht, übernimmt den
mühseligsten Theil der Arbeit und verdient sich dadurch den
meisten Dank. Möge der junge Forscher in seinem emsigen
Streben Glück und Anerkennung finden! William Wolf.
Jahrbuch des deutschen Protestanten-Vereins.*)
Die literarische Thätigkeit innerhalb des deutschen Protestan
ten-Vereins ist ungemein rege. Die Kraft der Ueberzeugung, von
*) Zweiter Jahrgang. Elberfeld, R. L. Friderichö, 1871.