© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 34
aus : Beilage zur Allgemeinen Zeitung Nr.56 #
1890,Feb.25,S. 1-2
AuZ den letzten fünf Jahren. 1 )
* Die Verbindung von künstlerischer Begabung, die sich in dichterischen :
Erzählungen kundgab, mit dem wissenschaftlichen Sinn. der zur Literatur- und
Kunstgeschichte führte, hat Herman Grimm zu einem Meister des Essay's in der
Bedeutung geniacht, die er dem Worte selbst in der Vorrede zum vorliegenden
Buche gibt: „Ein aus dem Griechischen in das spätere Latein übergegangenes
exagium wird als Ursprung des französischen essai und des italienischen
saggio genommen. Saggio bedeutet einen Theil, aus dem man auf das Ganze
schließt, eine Probe." Es scheint, daß Montaigne das Wort zuerst als Vücher-
titel verwerthete. Er sagt in der Vorrede von 1680: er widme das Werk seinen
Freunden, damit sie nach seinem Tod einige Züge dessen, was er gewesen und
gefühlt, darin wiederfinden und so eine lebhaftere Kenntniß seiner Natur be
wahren möchten. Proben seiner Denkungsart also, aus denen man auf den
ganzen Mann schließen sollte; seine persönliche Auffassungsweise steht im Vorder
gründe. Geltung und Ruhm erlangte dann der essay und damit Wohl auch
das y am Ende in England, durch Bacon von Verulam durch die Sammlung
seiner Aufsätze 1597. Er nannte sie Bruchstücke seiner Lebensansicht, Betrach
tungen und Studien, und äußerte in der Widmung der zweiten Auflage 1612
an den Prinzen von Wales: eine größere Zeit, wie sie urafassende Werke er
fordern, stehe weder diesem bei seinen fürstlichen Verhältnissen noch dem Ver
fasser bei seinem angestrengten Staatsdienste zu Gebote. Er biete kurze Be
merkungen wie Salzkörner, die den Appetit reizen; essay sei ein neues Wort
für eine alte Sache; denn Seneca's Briefe an Lucilius seien solche zerstreute
Bemerkungen in Form von Briefen. „Bacons essays," sagt Grimm, „sind nicht,
wie die Montaigne's, Abhandlungen zur Jllustrirung seiner literarischen Lieb
habereien, sondern kurze Auszüge gleichsam ungeschriebener umfangreicher Bücher
unb zugleich Aeußerungen persönlichen Denkens/' Zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts, als mit Addisons „Spectator" die Macht der Zeitschriften be
gann, trat die völlige Entwicklung und Ausbeutung des Essay's ein. Voltaire
schrieb in dieser Form, um seinen Landsleuten die englische Bildung klar
zumachen, seine Briefe ans Publicum wie Seneca. Ben Macaulay findet
öiimiu zk viel Vorwogen des Sachlichen, um fountmffe za'vHtbrettM? Carlyle
und zumeist Emerson sind ihm Anreger und Vorbilder gewesen: „zum wirk
lichen Essay ist heute erforderlich, daß er in fließenden, 'individuell gehaltenen
Gedankenreihen etwas allgemein Verständliches rasch behandle."
Die Subjektivität des Schriftstellers tr.it bei Grimm stark hervor, so
stark, daß er manchmal zurückdrängt, was er gelernt, was die Wissenschaft er
rungen hat, um einem großen Gegenstände, wie der Ilias, ganz frisch sich hin
zugeben, wie wenn er ihn zum ersten Male erblickte, ganz naiv seme Eindrücke
und Betrachtungen aufzuschreiben, wie der arme Mann von Toggcnburg sich
über Shakespeare's Dramen aussprach, von denen er nichts wußte, als daß sie
fein Gemüth mächtig packten. Und wenn manche Essays wirklich kleme Bücher sind,
so kann auch von den größeren Büchern Hernran Grimms gesagt werden, sie
seien umfangreiche, durchgearbeitete Essays über Nüchel Angelo, Rafael, Goethe:
Spiegelungen ihrer Werke, ihrer Persönlichkeiten m seinem Geiste, der mit seinen
eigenthümlichen Betrachtungen sie umspielt, beleuchtet, sich und uns deutet; und
man freut sich gern einer Darstellung, die Frisches und Neues bietet, während
die Männer der strengeren Schule, der gemeinsamen Arbeit, der gesicherten Er
gebnisse ihm heftig darüber schon gezürnt und sich ereifert haben, daß er nicht
„in Reih' und Glied" mitthue, sich nicht um ihre Uebereiukömmlichkeiten küm
mere und nach Absoiiderlichem trachte, wie wenn er Schiller fast wie einen be
triebsamen Literaten sich an Goethe herandrängen lasse oder den auf dem
rechten Main-Ufer geborenen Goethe dem nördlichen Deutschland aneignen
wolle, während Victor Hehn in ausführlichster Weise gerade das Süddeutsche
in Goethe's Wesen und Sprache glänzend hervorhebe. .
Auch im vorliegenden Buche hat Grimm eine solche subjeclive Meinung
eifrig und glänzend vertheidigt, ohne mich zu überzeugen. Er macht gar feine
Bemerkungen über das Heiligthum von Rafaels Frescomalerei, das Zimmer,
in welchem der Papst seine Erlasse unterzeichnet, wo er von den idealen Mächten
der Cultur, von Recht und Religion, Kunst und Wissenschaft umgeben sein
wollte, wo die weltberühmten Bilder der Disputa, der Schule von Athen, des
Parnasses die Wände schmücken. Da soll nach Grimm nicht Aristoteles in der
Mitte neben Plato stehen, sondern Paulus für den „unbekannten Gott" Gehör
von den Weisen Griechenlands verlangen — als ob das nicht eine Herabsetzung
der Philosophie statt der Verherrlichung wäre, als ob dadurch nicht die Bildung
der Renaissance verläugnct würde, die dem christlichen Himniel den Parnaß,
den Kirchenvätern die Philosophen des Alterthums zur Seite stellte. Was
sollten doch Pythagoras mit Arithmetik und Musik, was der Geometer Archi-
nrede-s mit seinen Schülern, so ganz um Paulus unbekümmert, im Vorder
gründe? Sie bezeichnen die Vorstufen, die zur Philosophie emporführen, und
Plato und Aristoteles sind die Vertreter des Idealismus und Realismus, nicht
kämpfend, sondern sich verständigend, sie, die Denker, welche von der Weltweis
heit aus sich zur Gotteserkenntniß erhoben.. Wie eigenartig herrlich hat Rafael
wirklich die Predigt Pauli in Athen auf einem der Cartons für die Teppiche
der Sixtinischen Capelle dargestellt!
Gar wohlthuend ist es, wie Gnmm das Recht der allgemeinen Geistes
bildung und ihre Nothwendigkeit neben der Specialisirung der Fnchgclehrsam-
keit vertritt. Griechenland, Rom, k>as Italien Dante's und Michel Angelo's,
das Deutschland Lessings und Wmckelmanns, Goethe's und Schillers sind ihm
ein Ganzes, die Sprachen dev elastischen Alterthums, wie die romanische und
' i^FüufzehiiEssays von Herman Grimm. iKiitersloh bei Bertelsmann. 1890.