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Redakteur: Prof. Di-. Hengstenberg.
Verleger: Ludwig Oehmigke.
Druck von Trvwitzsch und Sohn.
ein Zeugniß, das wider-uns ist, hervorheben, daß ein solches
Wort in der Christenheit nicht den allgemeinsten, den entschie
densten Widerspruch erfährt, daß wir uns nicht schämen, tief in
der Seele schämen darüber, daß die Versammlung christlicher
Gelehrten, die ein Areopag ächter Weisheit unter uns seyn
sollte, sich mit den Brosamen der Weisheit speisen läßt, welche
zerschellen muß an jenem auserwählten, von den Bauleuten
dieser Welt verworfenen Eckstein. Ja, wir wollen uns in
tiefster Seele schämen, daß wir noch so weit zurück sind in der
Weisheit, die allein vor Gott gilt; daß wir noch als das Ge
wöhnliche und Natürliche die Erscheinung hinnehmen müssen,
welche unsere Weisen richtet schärfer denn kein zweischneidig
Schwert; und vor Allem, daß die Kirche einer solchen Er
scheinung gegenüber kein Wort des Zeugnisses, kein Wort des
Erbarmens und der Bermahnung hat für das Glied ihres Lei
bes, von dem so weit hin mit der Fackel des Unglaubens, öf
fentlich und feierlich, Ärgern iß gegeben ist. Oder ärgert sie sich
an solchem Gebühren ihrer Glieder, solchem öffentlichen Nein
für die heilige Schrift nicht mehr? und fühlt sie nicht mehr
die Pflicht, der Wahrheit Zeugniß zu geben und die irrenden
Glieder zurückzurufen und zu strafen durch den Geist? Wehe,
wehe uns, wenn die Kirche vor den Heroen menschlicher Weis
heit stumm bleibt, wenn sie hier still steht und nicht wagt, die
anzutasten, die gerüstet sind mit jeder Rüstung, nur nicht mit
dem Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes! —
Unsere Absicht mit diesem Wort ist keine andere, als die:
uns Alle zur Besinnung über diese Erscheinung, zum Stillstehen
vor ihr, zur Buße zu rufen. Wir klagen Niemanden an, als
uns selbst. Wir reden nicht für die, die sich selbst außen hin
stellen, sondern für uns, die wir Bürger und Hausgenossen im
Reiche Gottes zu seyn meinen. Uns bringt es Schmach und
Schande, daß wir keine Liebe, kein Erbarmen, keine Ermah
nung, keine Zucht haben. Uns trifft das Gericht, das da an
fängt am Hause Gottes, zuerst. Was aber will es für ein
Ende werden mit denen, die dem Evangelio Gottes nicht glau
ben, so wir ihnen nicht, so lange es Tag ist und Raum zur
Buße, die Wahrheit bezeugen und sie reizen und locken, ihr ge
horsam zu werden?
Ja, Ihr Ältesten, die Ihr unter uns seyd, weidet die
Heerde Christi, die euch befohlen ist, nicht als die über das
Volk herrschen, sondern als Vorbilder der Heerde, seyd nüchtern
und wachet und widerstehet fest im Glauben aller Lüge, und
gedenket des Wortes eures „Mitältesten und Zeugen der Leiden
in Christo", der da spricht:
„Dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfan
gen hat, als die guten Haushälter der mancherlei Gnade
Gottes. So jemand redet, daß er es rede als Got
tes Wort. So jemand ein Amt hat, daß er es thue als
aus dem Vermögen, daö Gott darreichet."
So dienet denn eurem Mitgenossen, gleichviel ob er in dem
Purpur der Weltweisheit oder in der Livree des Blinden und
des Bettlers vor Gott steht, so redet zu ihm, wie Gottes
Wort zu ihm redet, und beweist es mit der That, daß die
ziehende und Zucht übende Liebe nicht gar erstorben ist unter
uns. Schweigt Ihr aber, steht Ihr stumm vor der Weisheit
dieser Welt, habt Ihr kein Wort des Bekenntnisses und des
Zeugnisses, wo eure Miterben der Gnade des Lebens sich ver
irren und Andere auf die Wege des Irrthums verführen, so
wundert Euch nicht, wenn diese Alle einst wider Euch zeugen
und Euch verklagen werden, weil Ihr stumm wäret, wo Ihr
reden, weil Ihr auf Eure eigene Kraft sahet, und verzagtet,
wo Ihr Euer Amt aus dem Vermögen, das Gott darreichet,
führen solltet. Wundert Euch nicht, wenn Viele, Viele, die
noch nicht wider uns sind, solch Schweigen dahin deuten, daß
die wissenschaftlichen Forschungen doch zu solchem Nein führen
müssen, und daß es daher mit dem Ja der Kirche so ernst
und genau nicht zu nehmen ist.
Was verlangen wir also? Wir verlangen, ja wir
bitten und flehen, daß die Kirche nicht länger ignoriren möge,
was ihre Glieder auf dem Gebiet der Wissenschaft öffent
lich zu Markts bringen als die Schätze und Edelsteine, die sie
in ihrer Arbeit erworben haben; daß die Kirche ein Wort des
Zeugnisses, Hirtenbriefe der geistlichen Pflege und Huth Er
scheinungen gegenüber habe, welche sie sowohl um der Person
willen, von der sie ausgehen, als um der Wirkung willen, die
solcher Erscheinung folgen, auf das Engste berühren; daß bei solchen
öffentlich en Jrrgängen dem Irrenden, sey er ein Weiser oder ein
Unwissender, der Wächterruf der Liebe nicht fehle Seitens derer,
die das Wächteramt haben; kürz: daß die Jsolirtheit un
sers kirchlichen, unsers Christenlebenö ein Ende
nehme, und vor Allem die kirchliche Obrigkeit anfange, die
Kirche als Einen Leib zu betrachten und zu behandeln, dessen
Glieder unmöglich nur theilweise solche seyn können und theil-
weise nicht. Ja, es ist wahrlich Zeit, hohe Zeit, daß wir
Ernst machen mit dem, was wir bekennen, damit wir nicht
dem Gericht der Heuchelei verfallen, welches Alle trifft, die
kein Ja haben, das wahrhaftig ja ist, und kein Nein, das
wahrhaftig nein ist! Wir können nicht Ja sagen und Nein
thun, sondern Glauben und Leben, Bekenntniß und Wandel
sollen Ein Ja seyn zur Ehre des treuen und wahrhaftigen
Zeugen, des Erstgebornen von den Todten!