Full text: Rezensionen von Herman Grimm aus der Deutschen Litteraturzeitung (1886 - 1900)

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aus : Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 22 
1893, Jun.3, S. 689- 692 
© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30 
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l. Wärburg, Sandro Botticellis ’,Geburt der 
^Vferius 1 und ,Frühling 1 . Eine Untersuchung über 
Vorstellungen von der Antike in der italienischen 
#' Frührenaissance. Mit 8 Abbild. Hamburg u. Leipzig, 
Leopold Voss, 1893. 50 S. gr. 8°. M. 4, gbd. M. 5. 
Das nur 50 Seiten starke, in drei Abschnitte 
getlieilte Heft macht den Eindruck, als ob es 
einige Theile einer grösseren Arbeit producire, 
welche die Zusammenhänge des florentinischen 
Quattrocento mit der antiken Litteratur und bilden 
den Kunst darzulegen beabsichtigt. Diese Arbeit, 
wenn sie nachfolgt, soll willkommen sein; wie 
sie ausfallen werde, lässt sich einstweilen nicht 
beurtheilen. Es wird sich darum handeln, ein 
Phänomen im Allgemeinen zu fassen, welches aus 
dem hier behandelten Beispiele sich in seiner 
Totalität noch nicht erkennen lässt. 
Wer seine Aufmerksamkeit der Entwicklung der 
toscanischen Kunst zuwendet — den Begriff Kunst 
in vollem Umfange als nationale Phantasiearbeit 
gefasst — muss bemerken, wie unfrei sie war. 
An ununterbrochen sich zudrängenden Beispielen 
sieht er, dass der Process, den wir die Renaissance 
nennen, in der bewussten und unbewussten Auf 
nahme fertig vorliegender antiker Anschauungen 
bestehe. Wenn Dante sagt (J. V, 83): 
Quali colombe dal disio chiamate, 
Gon l’ali aperte e ferme, al dolce nido 
. Volan, par l’aer dal voler portate 
so entnahm er das Virgils Aenei'de (V, 213): 
Qualis spelunca subito commota columba, 
cui domus et dulces latebroso in pumice nidi, 
fertur in arva volans, plausumque exterrita pennis 
dat tecto ingentem, mox aere lapsa quieto 
radit iter liquidum, celeres neque commovet alas: 
sic Mnestheus, sic ipsa fuga secat ultima Pristis 
aequora, sic illam fert impetus ipse volantem 
so offenbar, dass der Uebergang der lateinischen 
Verse in die italienischen Niemand zweifelhaft 
erscheinen wird, ohne dass man darum von 
Plagiat oder auch nur Entlehnung sprechen 
dürfte. Denn Dantes Worte klingen, als müsse 
in seiner Phantasie das Bild von Neuem entstanden 
sein, wie es einst in der Virgils entstanden war. 
Dante erfüllte es in solchem Maasse mit eigener 
Lebenskraft, dass er es nachträglich zu seinem 
Eigenthume abzustempeln scheint. 
Entlehnungen oder Zeugungen dieser Art er 
füllen die gesammte neuere Litteratur. Goethes 
Wilhelm Meister erwuchs auf dem Boden des 
Roman comique von Scarron und der Preziosa 
des Cervantes, deren Elemente von ihm gemischt 
und in das Deutschland von 1778 versetzt wurden. 
Wer dächte hier an Plagiat? Wer aber auch 
wollte unternehmen, den Prozess nachzuweisen, 
durch den Wilhelm und Mignon sich diesem Chaos 
entwanden, um als neue .Schöpfungen dazustehen, 
denen kein fremdes Zuthätchen anklebte ? Man 
begnügt sich, darauf hinzuweisen. Gewiss lässt 
sich, wenn ein Korn, das in den Boden gelegt 
wird, keimt, sehr Vieles, was bei dieser Entstehung 
eines neuen Daseins vorgeht, beobachten und er 
klären, die Thatsache selbst aber bleibt ein Novum. 
Und so die entzückenden Hervorbringungen 
jener florentinischen Cultur, jenes Wiederauflebens 
des Alterthums in vermehrter Kraft. Litteratur und 
bildende Kunst machen eine Einheit aus. Der Boden 
Toscanas war erfüllt von Sarkophagen und Grab 
stätten, geformten Gefässen, Statuen und architek 
tonischen Ornamenten, Cameen, Münzen und ge 
schnittenen Steinen. Sie dienten den Bildhauern und 
Malern wie von der Natur selbst gelieferte Vor 
bilder. Von der Thätigkeit des Nicola Pisano an 
sehen wir den Einfluss zumal der Sarkophage: seines 
Sohnes Giovannis scheinbar leidenschaftlich bewegte 
Gestalten und Gewänder waren ihrer Conception 
nach antiken Ursprungs. Das Schöne dieser Ent 
wicklung liegt darin, dass die directe Natur 
beobachtung neben der Zuthat antiker Nachahmung 
doch immer die leitende Mutter der künst 
lerischen Erfindung blieb. Erst als die Buch 
druckerkunst die antike Litteratur mit verstärkter 
Gewalt hervortreten liess und aus der blossen 
Anschauung der Ueberbleibsel der antiken Kunst 
werke sich die theoretische Erforschung dessen 
bildete, was man als ihre Vorzüge erkannte, als 
das anfangs nur zufällige Auffinden dieser Sachen 
zu sorgfältigerem Nachsuchen führte, fing bei 
einigen Meistern die Antike an, sich über das, 
was man aus sich selbst hervorgebracht hatte, 
zu erheben, und der blosse Einfluss führte zur 
Nachahmung. Verrochio hat in diesem Sinne 
eine Schule gegründet, für die die Antike vor 
nehmere Autorität war als die Natur, aus der 
Botticelli, die Lippi, Lionardo, Perugino und 
Andere hervorgingen: alle befangen in jenen von 
scheinbar leidenschaftlicher Bewegung hervor 
gebrachten lebhaften Stellungen, welche die 
Sculpturen der römischen Kaiserzeit in unge 
zählten Mustern darboten. 
Der Verf. der vorliegenden Arbeit hat für 
zwei Gemälde Botticellis derartigen Zusammenhang 
mit der Antike nachgewiesen. Es handelt sich hier 
um zartverästelte Verbindungen, denen er mit 
Sorgfalt nachgegangen ist. Beim ersten Gemälde 
zeigt er, wie nicht ein homerischer Hymnus, 
sondern nur im Anklang an diesen Verse Polizians 
die Quelle des Werkes gewesen sind ; beim zweiten, 
wie es derselben Dichtung entsprang und dem 
gemäss, im Gegensätze zur gemeingültigen neueren 
Erklärung, in einzelnen Theilen umzudeuten sei. 
Man folgt diesen Ausführungen mit Zustimmung 
und freut sich, einem so gewissenhaften Forscher 
zu begegnen. 
Zur Sache möchte noch Folgendes hier zu 
bemerken sein. Die von W. behandelten Gemälde 
bestehen beide nur aus einzelnen Theilen, welche, 
obwohl sie sich nebeneinander präsentiren, 
dennoch ausser innerem Zusammenhänge stehen, 
ja, selbst da, wo sie sich aneinanderdrängen, 
auch äusseren Zusammenhanges baar sich auf 
derselben Fläche beieinander finden. Wie dicht 
folgen sich nicht, von links beginnend, beim 
zweiten Gemälde die tanzenden drei Grazien, 
Venus, Primavera und die Nymphe mit ihrem 
Verfolger, und wie greift, einen einzigen Fall 
ausgenommen, nirgends ein Contur in den anderen 
über; und selbst wo der flüchtenden Nymphe 
Hände in Primaveras Umriss ein wenig hinein- 
gerathen, bilden diese beiden weiblichen Figuren 
in keiner Weise ein Ganzes. Diese aufgezählten 
fünf Elemente des Gemäldes verhalten sich wie 
einander fremde Conceptionen, die sich nur zu 
fällig hier in äusserlicher Gesellschaft finden. Ich 
sehe in dieser blossen Aneinanderfügung einen Be 
weis mehr für W.’s Annahme, dass Botticelli unter
	        
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