1898, Mrz.17
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E. Tappolet, Wustmann und die Sprach wissei*-
Schaft. [Mittheilungen der Gesellschaft für deutsche
Sprache in Zürich. Heft III.] Zürich, E. Speidel,
1898. 28 S. 8°.
Das Heft hat 28 Seiten. Auf der letzten ge
langt Dr. Tappolet zu folgendem Schlüsse seines
Vortrages: „— wir haben unbefangenere und
angenehmere Lehrer zur Vermeidung unserer
Sprachdummlieiten als den Grammatiker Wust
mann, ich meine unsre besten Schrift
steller in allen Gauen deutscher Zunge; da
finden wir, die einen bewusst, die meisten wohl
unbewusst, die Lösung aller praktischen Sprach-
fragen ; nicht durch die Grammatik, sondern durc h
aufmerksame Lektüre und freie Nachahmung 1er -
nen wir schreiben.“ Offenbar ist Dr. T. der
Meinung, dem (uns in seinen Schriften unbekann -
ten) Herrn Wustmann gegenüber eine That zu
vollbringen, indem er sich unabhängig von dessen
Vorschriften erklärt. Es bedarf weder ‘auf
merksamer Lektüre’ noch 'freier Nachahmung’,
um gutes Deutsch zu schreiben, sondern wer
Deutschen wirklich etwas zu sagen hat, wird
ohne Lektüre und Nachahmung schon wissen,
wie er sich auszudrücken habe. Leute, die sich
mit sogenannter Sprachreinigung befassen, haben
meistens keine eigenen Gedanken, deren richti
ger Ausdruck irgendwie in Betracht käme. Und
dass Dr. T. soviel Seiten braucht, um sich eines
Sprachreinigers zu erwehren, ist seltsam. Jere
mias Gotthelf, einer unserer sprackgewaltigen
Deutschen, würde wenig geleistet haben, wenn
er bei jedem Satze in Leipzig erst hätte
anfragen wollen, ob er so schreiben dürfe.
Oder, da Bizius ein Berner war: Usteri, der
nicht bloss im Zürcher Dialekte schrieb, wird
sich wohl gehütet haben, irgendwo in Deutsch
land um geneigte Korrektur zu bitten, als er
‘Freut euch des Lebens’ dichtete. Deutschland
besteht Arndt zufolge ‘soweit die deutsche
Zunge klingt’ und nicht soweit der deutsche
Schulmeister seine Mitdeutschen korrigirt.
Es giebt ein Studium der deutschen Sprache.
Es frommt, zu ergründen, worin die Schönheit
der Verse und der Prosa Goethes und Schillers
bestehe, sich den Unterschied des historischen
Styles klar zu machen, der Treitschke, Curtius
und Ranke eigen war; zu empfinden, worin die
Sprache Jacob Grimms von der der Zeitgenossen
abwich; sich zu fragen, warum überhaupt einige
Leute zu schreiben wissen und andere nicht.
Niemandem wird beikommen, den Werth und
das Fördernde solcher Studien zu verneinen.
Aber Normen aufstellen zu wollen, wie der le
bendige Fluss einer Sprache zu maassregeln sei,
ist das Werk von Homunculusproduzenten, deren
unschädliches Selbstbewusstsein man ja gern un
gestört lässt, die sich aber nicht aufdrängen
sollen. Die Entwicklung der deutschen Sprache
von Luther bis auf heute ist geheimnissvoll wie
das Wachsthum eines Jünglings zum Manne.
Die Natur findet ihre Wege.
Berlin. Herman Grimm.