Full text: Rezensionen von Herman Grimm aus der Deutschen Litteraturzeitung (1886 - 1900)

aus 
Deutsche Litteraturzeitung, Nr.30 
1897,Jul.31, S. 1188-1189 
Karl Schrattenthal, Franz Wörther, ein Dichter 
und Denker aus dem Volke. Pressburg, Selbstverlag 
des Herausgebers, 1897. 126 S. 8°. 
Das diesem dünnen Bändchen angehängte Ver- 
! zeichniss der von Prof. Schrattenthal bereits heraus 
gegebenen Werke von 'Dichtern aus dem Volke’ 
beginnt mit Johanna Ambrosius, deren Gedichte 
in drei Jahren nun schon die dreissigste Auflage 
erlebt haben. Im Ganzen sind es achtzehn Dichter 
und Dichterinnen, so bedeutend freilich als die 
erste keine von den folgenden, manche aber 
doch auch bereits in neuen, vermehrten Auflagen 
erscheinend. Der Herausgeber arbeitet ohne 
politisches oder ästhetisches Programm: die 
Dichter und Dichterinnen wenden sich an ihn, 
und er erfüllt, soweit er kann, ihre Wünsche. 
Dieser Verkehr einsam und versteckt Verse 
schmiedender Menschen mit einem Freunde, der 
ihnen zu helfen sucht, hat etwas Ergreifendes. 
Franz Wörthers kurze Biographie ist dem sehr 
hübsch gedruckten Bändchen beigegeben. Er 
lebt als Schuhmacher in seinem Geburtsorte 
Klein - Heubach am Main als Vater von sieben 
Söhnen, deren letzter, allein noch unversorgter 
eben die Schule verlässt. 
Man fühlt diesen Gedichten an, wie ihr Verf. 
nur für sich selbst sie niederschrieb. Wir treten 
beim Lesen der tief empfundenen, ohne jede 
Phrasendrechselei niedergeschriebenen Verse in 
Verkehr mit einem den Siebzigern schon nahe 
stehenden Manne, der viel Menschliches erlebt 
und sich zu innerer Ruhe durchgerungen hat. 
Deutschland beherbergt gewiss noch viele Dichter 
dieser Art und ähnlicher Begabung. Wollten 
wir ihr Niedergeschriebenes alles drucken lassen, 
so würde uns viel Monotones zu Gehör kommen. 
Hier aber begegnen wir in dem dichtenden 
Schuhmacher einer abgeschlossenen Persönlich 
keit, die in einer der späteren Ausgaben Gö- 
dekes doch wohl ihre Stelle finden wird. Im 
Volke, d. h. in den von der Atmosphäre unserer 
grossen Städte unangerührten Theilen Deutsch 
lands, stehen Dichter und Dichterinnen noch in 
Ansehen; die ihnen verliehene Gabe, das Einfach 
menschliche, Heilige, Vaterländischbedeutende aus 
zusprechen, verleiht ihnen einen gewissen Rang. 
Rosalie Kochs Stellung in ihrem abgelegenen 
Orte ist ein schönes Beispiel dafür (auch deren 
schon in dritter Auflage erschienene Gedichte 
hat Prof. Schrattenthal herausgegeben). Die 
Mischung von Gestank und Parfüm, die uns aus 
manchen Dichtungen neuester Schule grossstädti 
schen Ursprungs heute entgegenquillt, bildet einen 
seltsamen Gegensatz zu dieser unschuldigen Lyrik. 
Viele von den Volksdichtern des Prof. Schratten 
thal sind mir successive nun bekannt geworden: 
alle bezeugen, wie sicher und segenbringend das, 
was wir höhere geistige Bildung nennen, in die 
Allgemeinheit des deutschen Volkes jetzt einsickert. 
B erlin. PI e r m a n G r i m m.
	        
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