aus
Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 7
1887,Feb.12, S. 236-237
1 Mafc-Monnier, La Reforme, de Luther ä Shakespeare.
/(Histoire de la litterature moderne.) Paris, Firmin-Didot et Cie.,
| 1885. IV u. 495 S. gr. 8°. Fr. 5.
W. Scherer hatte das Buch für die DLZ. besprechen
wollen: das Buch eines Autors, der, wie ein Nach
wort besagt, die Vollendung des Druckes nicht erlebte.
Marc-Monnier (Vapereau zufolge) geb. im Jahre 1829
zu Florenz, starb am 1-. Anril i885...aj.s.
Litteraturgeschichte an der Genfer Universität. Seine
Lebensbahn würde bei uns mehr für die eines Schrift
stellers als die eines Universitätsgelehrten erklärt werden,
er hat Gedichte herausgegeben, für die Bühne geschrie
ben, Zeitgeschichtliches für gröfsere Kreise behandelt
und liefert im vorliegenden Bande eine Fortsetzung
dieser Tätigkeit. Luther, Calvin, Rabelais und Mon
taigne, Tasso, Giordano Bruno, Camoens, Cervantes,
Shakespeare sind die Ueberschriften der acht Kapitel.
Diese Männer werden dargestellt in ihrer Beziehung
zur Litteratur, die sie umgab, und als Schöpfer des
speciell Neuen, was sie als Schriftsteller in erster Linie
hervorgebracht. Man sieht, wie das Buch aus Vor
lesungen hervorgieng, empfindet auch bald, dass der
Verf. weniger unter dem Eindrücke der Werke Luthers,
Calvins u. s. w., als aus der Kenntnis dessen heraus
schrieb, was er an historischer Kritik aus der Feder
j Anderer über sie in sich aufgenommen hatte. Seine
Ausführungen sind mehr im Tone und in der Sprache
eines gewiegten Recensenten, als in dem eines forschen
den Historikers gehalten. Unklar ist ihm nichts, beunruhigt
fühlt er sich nirgend, langweilig gewesen zu sein, würde
er für das Schlimmste erachten was ihm vorgeworfen
werden könnte. Auch ist er es nirgends. Er macht
den Eindruck eines sicheren Schlittschuhläufers, dem
es natürlicherweise nicht darauf ankommt, ob das
Wasser unter ihm ’/a oder 100 Meter tief ist. Man
folgt ihm gern mit den Augen. Die Epoche aber, die
M.-M. zu charakterisieren unternimmt, ist deutschem
Gefühle nach zu bedeutend für diese amüsante Behand
lung. Diese Männer waren nicht blofse Litte'rateurs,
die ihrer Zeit etwa auf eine Art von Publicum wie das
heutige (insoweit es Bücher consumiert) wirken wollten-
Bei Kap. 2—8 lässt man sich dergleichen vielleicht ge
fallen, bei Kap. 1 aber nicht. Luther kann von heutigen
Historikern entweder als Feind oder als Freund behandelt
werden: soll das Letztere aber der Fall sein, so ver
langen wir, dass mit dem tiefen Ernste und der Ehr
furcht an ihn herangetreten werde, deren es bedarf,
um seine Gestalt wahr herauszumeifseln. M.-M. behandelt
ihn ein wenig im wolwollenden Feuilletonstil, in
welchem die vornehmeren Kritiker, sagen wir des
»Temps«, heute ihn besprechen könnten: liberal, ohne
Vorurteil, unconfessionell, aber zugleich doch auch so,
dass katholische Leser empfänden, man habe ihre Ge
fühle nicht unberücksichtigt gelassen. Natürlicherweise
kann hierin nichts liegen, was einem französischen Pro
fessor der Literaturgeschichte zum Vorwurfe gereichte.
Man muss aber, wenn man so schreiben will, die eigene
Individualität mehr hervortreten lassen. Montaigne kommt
in seinen Essays, St. Beuve in seinen Causeries auch so,
scheinbar, äufserlich vom Einen aufs Andre, allein der
Leser merkt sehr bald, dass er in diesen Schriftstellern
mit Charakteren zu tun habe, die ihn nötigen wollen,
und meist auch können, zu denken wie sie. Wie aber
dachte M-.M.? Man kommt nicht einmal zu der Frage.
Sie erscheint unhöflich und undankbar.
Das Buch ist voll von litterarhistorischem Mate
riale, mit dem wir gern und dankbar den eigenen
Vorrat bereichern. Zeigen die einzelnen Kapitel in Be
ginn, Steigerung und Abschluss das ausgebildete Talent,
das den französischen Autor im allgemeinen so hoch
über den deutschen stellt, der nicht immer im Leben
ausgiebige Gelegenheit findet, sich zum Producenten
gedruckter Gedanken auszubilden, so ist dem Ganzen
doch vorzuwerfen, dass es, was Auswahl und Folge der
einzelnen Namen anlangt, dem Ansprüche nicht gerecht
werde, in den hier zusammengefassten Schriftstellern
der beiden Jahrhunderte der Reformation ein, wenn
auch nur oberflächliches, Bild der ungeheuren Bewe
gung zu liefern. Es enthält in der Tat mehr ein Arrange
ment, als eine einheitliche Conception. M.-M. hatte früher
bereits unter dem Titel »la Renaissance« die repräsen
tierenden Schriftsteller von Dante bis Luther behandelt
und wollte ein Buch folgen lassen, welches den Titel »la
Resolution« trüge. Diese Teilung der modernen Litteratur-
geschichte in drei grofse Massen erscheint auf den ersten
Blick glücklicher als bei späterem Bedenken. Renaissance,
Reformation und Revolution sind in dem Sinne, in dem
M.-M. sie ausbeutet, nichts als äufserliche chronologische
Rubriken. Luther und Shakespeare haben als Inhaber
des ersten und letzten Kapitels des Buches wenig Zu
sammenhang. Das Buch ist katalogischer Art.
Ich habe versucht, das hervorzuheben, was, wie ich
mir denke, Scherer in dieser Besprechung etwa berührt
haben würde. Vielleicht nur würde er auf das im
2. Kapitel über Stücke der älteren französischen Bühne,
überhaupt in allen Kapiteln über theatralische Arbeiten
Gesagte näher eingegangen sein. Scherers Augenmerk
war mit Vorliebe auf dergleichen gerichtet. M.-M. steht
nach dieser Richtung ein so reiches Material zu Gebote
und er weifs es so wol anzubringen, dass das Buch
jedem, der an diesen Dingen Gefallen hat, empfohlen
werden muss.
Berlin. Herrn an Grimm.