© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
aus : deutsche Litteraturzeitung, Nr. 21
1897,Mai 29, S. 824 i- 829
Julius Lange, Thorwaldsens Darstellung des
Menschen. Ein kunstgeschichtlicher Umriss. Ins
Deutscheiibertragen von Mathilde Mann. Berlin,
Georg Siemens, 1894. XII u. 144 S. gr. 8° mit 8
Vollbildern und 16 Text-Illustrationen. M. 5.
Das Buch ist Adolf Furtwängler gewidmet, ein
Zeichen, dass der Verfasser kein Feind der Deut
schen sei. Abneigung gegen uns tritt auch nir
gends bei ihm hervor, im Gegentheil geflissent
liches Bestreben, den Deutschen gerecht zu
werden. Dies Bestreben aber doch ist sichtbar.
Und dies der Grund, weshalb ich einige Worte
über die vor zwei Jahren schon erschienene
Arbeit noch sagen möchte.
Ich habe sie mit Freude und Genuss und mit
dem Gefühle lebhafter Ueberraschung durchge
lesen. Sie ist vorzüglich im Ausdruck der Ge
danken und in der fein empfindenden Betrachtung
der Werke Thorwaldsens. Das Nationale in
des Künstlers Art, seine Abhängigkeit von Italien
und vom Publikum des Roms unseres beginnen
den Jahrhunderts, in dessen Mitte er arbeitete,
sein Verhältniss zu der die Anschauungen damals
beherrschenden Antike, alles, was irgend bei
Thorwaldsens äusserer und innerer Laufbahn zu
erwägen war, — bis auf Eines! — ist von Prof.
Lange in Betracht gezogen worden. Auf den
Mangel dieses Einen aber kommt es an.
Darin sind wir Deutschen den anderen Völ
kern über, dass unsere Natur uns seit den 2000
Jahren nun schon, die wir in der Geschichte
drin stehen, die Eigenschaft versagt hat, ohne
äusserste Reizung von aussen her gegen andere
Völker nationalen Hass zu fühlen. Unsere Un
fähigkeit, fremdes Verdienst nicht zu schätzen
und nicht zu lieben, ist uns oft schlecht genug
bekommen; aber wir vermögen uns nicht von
diesem Triebe, anzuerkennen, zu befreien, wir
so wenig von ihm, als die anderen Völker von
der tief eingeborenen Abneigung gegen uns. Thor-
waldsen ist ein Beispiel dafür nach verschiedenen
Richtungen.
Nirgends wurde er im Sinne des äusseren
Erfolges so anerkannt, wie in Rom. Dort war
er gleichsam zum zweiten Male auf die Welt
gekommen und alt geworden. Seine Marmor
gestalt ist im Garten des Palazzo Barberini sicht
bar, dort, wo sein Atelier einst stand. In der
Peterskirche ist eines der kolossalen Papstgrab
denkmäler von seiner Hand. Wie wäre ein solcher
Auftrag möglich gewesen ohne die freiwillige Zu
stimmung der höchsten Vertreter der Kirche? Auch
unterscheidet es sich nur wenig von den anderen
Aufthürmungen marmorner Riesengeschöpfe, die
in dieser Denkmalswelt der todten Päpste zu
Hause sind. Mir schien lange, als ob Italien
Thorwaldsen für einen der Seinigen ansehe.
Eine gelegentliche Aeusserung aber zeigte .mir
die wahre Gesinnung. D. Luigi Tosti, der
benediktinische Geschichtsschreiber von Monte-
cassino, erzählt in einem Aufsatze seine Ein
drücke beim Betreten der Peterskirche. Da
nennt er Paul des Dritten Denkmal (von Guglielmo
della Porta), dessen Urheber er nicht zu kennen
behauptet, dann das Pius des Sechsten von
Thorwaldsen, dann das Pius des Siebenten von
Canova, das sein fromm bewunderndes Gefühl
zum Ueberfliessen bringt. Ueber Thorwaldsens
Werk sagt Tosti, dass es ihn mit Verachtung
erfüllt habe. Und warum? Mit einem einzigen
Beiworte, das er Thorwaldsen giebt, erschöpft
er alle seine Gründe. 'Iconoclasta’ nennt er ihn.
Mochte Thorwaldsen sein, wer er wollte, für
Luigi Tosti war er Däne, Germane, Lutheraner,
Deutscher: alles zusammenfliessend in dem Begriffe:
Bilderstürmer. Für den Römer sind wir Ger
manen nordwärts der Alpen Wiedertäufer oder
heute Freimaurer. Dass Thorwaldsen vielleicht,
wie Overbeck seiner Zeit, zum Katholizismus
hätte übergetreten sein können, würde an dieser
Anrede: 'Iconoclasta’ nichts geändert haben. 1 )
Prof. Lange aber hat sich ebenfalls hinreissen
lassen, wenn auch in unschuldiger, sehr entschuld
barer Weise.
Ohne Zweifel kennt er Italien und Deutsch
land, aber, wie Recht ist, der eigentliche Boden
seiner Studien war das Kopenhagener Thor
waldsen-Museum, und auf die darin gesammelten
Erfahrungen hin sucht er sein Schlussurtheil über
den Künstler zu bilden. Thorwaldsens Zeit, ist
seine Meinung, werde im Kreisläufe der wechseln
den Weltanschauungen wiederkommen, allzufest
aber glaubt er an eine den vollen Ruhm des
grossen Künstlers wiederherstellende Anschauung
der Zukunft nicht. Die Grenzen 'Thorwaldsens
glaubt er erkannt zu haben und schliesst die
Rechnung hier mit keinem problematischen Plus
minus, sondern mit einem Minus. Thorwaldsens
Ruhm lässt sich Lange’s Gedanken nach heute
bereits sicher ausmessen.
Nun behauptet Lange ziemlich summarisch, die
Deutschen hätten 'Thorwaldsen als einen der
Ihrigen angesehen, ihn seiner Zeit auch bewun
dert, schwiegen aber heute beinahe über ihn,
während die Franzosen ihn eher wohl noch er
wähnten. Und so, wenn er sagt, dänische Augen
würden den dänischen Bildhauer doch wohl am
besten zu beurtheilen wissen, wird damit nichts
gegen deutsche Kritik gesagt. Immerhin aber
ist Lange mit unserem Urtheil über Thorwaldsen
ungenügend bekannt. Es sind die vielleicht
lauten, aber doch leicht verhallenden Stimmen
’) D. Luigi Tosti, Benedettino Cassinesc. Scritti
Vari, Vol. I. Roma, Tipografia della Camsa Dei Deputati,
1886. p. 62: „Era Pio VI, messo lä ad orare dal
Canova. Aveva visto Paolo III assiso sul suo sepolcro,
paganizzato da non so chi, e ne patii scandalo; aveva
visto Pio VII, pietrificato dall’ iconoclasta Thorwaldsen,
e ne provai sdegno.“ — Uebrigens spricht Lange viel
zu wenig von Canova in seinem Buche; von Ranch gar
nicht, soviel ich mich erinnere. Der Vergleich der Werke
dieser beiden mit denen Thorwaldsens durfte nicht unter
bleiben; denn alle drei bilden eine Gemeinschaft, und
einer hilft den anderen erklären. Thorwaldsen hat, weil
das gute Glück ihm günstig war, die Antike am reinsten
aufgenommen. Auf ihn allein haben die Griechen vollen
Einfluss gehabt.