aus : Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 4
1894, Jan.27, S.116-118
© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
Adolf Hildebrand, Das Problem der Form in
der bildenden Kunst. Strassburg, J. II. Ed. Heitz
(Heitz u. Mündel), 1893. 125 S. 8°.
Der Verf. dieser Betrachtungen hat das Ge
fühl, über dem bildenden Künstler walte ein Ge
setz, dem seine Thätigkeit sich unterzuordnen
habe. Nicht bloss die individuelle Natur des
Künstlers, soweit sie aus einem Werke uns ent
gegentritt, sei das Maassgebende für dessen Werth
und Wirkung; sondern zu fragen sei, ob nicht
ein Ueberschreiten der aus der Natur der
Arbeit sich ergebenden Grenzen den Werth der
besonderen Leistung doch vielleicht beein
trächtige. H. versucht für die Skulptur gleich
sam ihr innewohnende, ihr angeborene Urbedin-
gungen festzustellen und kommt zu bindenden
Schlüssen für die heutige Bildhauerkunst indem
er, als letzte Folgen bestimmter Gedankenreihen,
ergründet zu haben glaubt was als geboten,
was als erlaubt und auch was als nicht er
laubt angesehen werden müsse.
Darüber zu urtheilen, wie weit man sich
durch die Resultate dieser Betrachtungen als ge
bunden anzusehen habe, wäre die Sache ar
beitender Künstler. Dem Aussenstehenden, der
keine Künstler zu erziehen und den fertigen keine
Glaubenssätze vorzuschreiben hat, dürfen die vor
liegenden Aeusserungen nur als Erläuterungen der
eigenen Arbeiten ihres Verfs. gelten. Adolf
Hildebrand erklärt, wie er seine Werke beurtheilt
zu sehen wünsche, zum Theil auch, was ihm
an denen Anderer missfalle. Zu bedenken
möchte bei diesen Vorschriften Folgendes sein.
Echtes künstlerisches Schaffen besteht nicht
in der Anwendung gelernter Regeln auf die Her
vorbringung eines vorher construirten, in der
Phantasie bereits fertig und abgeschlossen da
stehenden Kunstwerkes, sondern in der Schöpfung
von etwas Neuem, dessen Anblick den es
erzeugenden Künstler selbst überraschen muss.
In diesem Sinne ist jedes neueste Kunst
werk, unabhängig von allen davorliegenden,
der Beginn einer neuen Reihe. Wie man es be-
urtheile, ist gleichgültig: einstweilen genügt, um
es zu beglaubigen, dass es für die Blicke des
Volkes überhaupt vorhanden sei und entschiedenen
Eindruck mache. Ich glaube, um ein Beispiel
zu geben, dass Bernini im Ganzen heute wenig
Bewunderer habe, dass Niemand ihn als Vorbild
aufstellen möchte, dass man ihn als »Manieristen«
kunsthistorisch abzuthun geneigt sei. Immer aber
wird bestehen bleiben, dass dieser Mann eine un
geheure Schaffenskraft besass, sein Jahrhundert
— er erlebte drei Generationen -— zu staunender
Bewunderung hinriss und Alles in Allem ein
»ganzer Kerl« war. Wie sein Jahrhundert war, wat
er. Hätte Bernini eine Philosophie seiner Kunst
schreiben wollen, so würde er wahrscheinlich
klargelegt haben, anders könne und dürfe nicht
gearbeitet werden, und die Majorität seines
Publikums würde ihm beigestimmt haben. Sicher
lich aber arbeitete Bernini anders als jeder
andere Künstler vor und nach ihm, gleichzeitige
Kopisten seiner Manier ausgenommen.
Der Verf. unseres Büchleins hat, fern von
Deutschland, in Florenz lebend sich durch zahl
reiche Arbeiten Ruhm, Achtung und Bewunderung
erworben. Seine Werke tragen den eigentüm
lichen Stempel seines Willens und seiner bisherigen
Umgebung. Seine Lehre bildet gleichsam ein
Programm dessen, was von seinen Händen noch
zu erwarten ist. Mögen ihm grosse Aufgaben
zu Theil werden.
Berlin.
Her man Grimm.