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aus : Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 51/52
1900,Dez.15, S. 3393-3395
© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
Herman Grimm, Leben Michelangelos. [Grosse
illustrirte Ausgabe, o. J., 439 Seiten Text Folio, ca.
150 selbständige Bildtafeln, zahlreiche Abbildungen im
Texte.] Berlin und Stuttgart, W. Spemann, 1901. M. 80.
Vor den mehr als 40 Jahren, dass ich meine
Arbeit unternahm, stand der David des Michel
angelo noch am Palazzo Vecchio. Schmutz ver
schiedenster Herkunft hatte sich zumal in den
tieferen Stellen des Kopfes eingenistet, und man
musste Mondschein abwarten, um die Gesammt-
haltung der Figur und die Modellirungen des
Antlitzes unbeeVASädir.vgt zu, erkennen. Später
wurde die Statue gereinigt, entbehrt heute aber
auf ihrem neuen Platze in der Accademia, wo
hin sie ehrenvoll, aber nicht mehr als öffentlicher
Bestandteil der alten Stadt Florenz, in Ruhestand
versetzt worden ist, ihres legitimen Hintergrun*
des und des wechselnden Lichtes des Tages und
der Jahreszeit. Im vorliegenden Buche geben
nach Photographie ausgeführte Zinkdrucke das
Werk wie es damals stand und heute steht, zu
gleich aber auch von Ansichtspunkten, die früher
unmöglich waren, und bei künstlich hergestelltem
allergünstigsten Lichte Ansichten einzelner Theile
in eigens nur für diese Aufnahmen geschaffener
Beleuchtung. Und, abgesehen von meinem Buche,
gestattet das Skioptikon heute die über die
Grösse des Originales selbst binausgehenden fast
ungeheuren Vergrösserungen, welche erst eine
Ahnung dessen zu geben scheinen, was dem
Künstler vielleicht in innerster Phantasie vor-
sclnvebte. Auf neuen Wegen dringen wir so in
Michelangelos geheimere Gedanken ein. Wer
hatte denn einstmals vor der Statue an ihrer
j alten Stelle die beiden Ansichten des Kopfes in
reinem Profil und rein en face so vor Augen
gehabt wie die Photographien sie heute liefern,
welche mein Buch reproduzirt? Und wer wird
je die das Auge fast beängstigende kolossale
Wiedergabe ihrer Abbilder auf der bestrahlten
weissen Wand vergessen? Man vergrössere
Werke anderer Künstler so: kahl und inhalts
los werden sie oft als leere Schatten dastehen,
während Michelangelo bei diesem Uebermaasse
von Vergrösserung nur erst zu seinem Rechte
zu gelangen scheint. So haben mit den Jahren
die Bedingungen sich geändert, unter denen der
David betrachtet werden kann.
Die Gestalten Michelangelos sind nicht auf
den ersten Blick so deutlich wie nach längerer
Bekanntschaft. Donatellos und Verrocchios be
berühmte Davidstatuen stellen den Hirtenknaben
nach vollbrachter Heldenthat mit dem Kopfe
Goliaths sich zu Füssen, in ruhig triumphirender
Stellung hin. Bernini giebt ihn in fast entstellen
der Anspannung aller Muskeln in dem Momente,
wo er eben losschleudern will. Michelangelo
lässt den kühnen Jüngling mit den Blicken den
Punkt gleichsam suchen, wo der Stein seinen
Gegner sicher treffen wird: David greift halb
unbewusst nach der Schleuder. Ein Moment
höchster dramatischer Spannung. Dies der Grund,
weshalb ich möglichst viel Abbildungen des
Werkes gebe: dies müssen wir empfinden. Und
auch was Moses in seiner zur That sich erheben
den Stellung bedeute, lässt sich eher sehen als
beschreiben, und ist die Statue deshalb in mehr
fachen Beleuchtungen gegeben worden. Dieser
Tage doch erst wurde mir völlig klar, was
Michelangelo in den Gedanken trug bei dieser
sich aufreckenden Gestalt. Mein australischer
Freund C. Delmer, der Italien wohl kennt, wies
mich auf die Schlussworte des letzten Buches
Mosis hin: ‘Und es stand hinfort kein Prophet
in Israel auf, wie Mose, den der Herr erkannt
hätte von Angesicht zu Angesicht. Zu allerlei
den fröhlichen Genuss am Dasein. Luther,
Hutten und Dürer können zu gleichem Dienste zu
sammengestellt werden: sie repräsentiren Kloster
leben, Ritterleben und Bürgerleben ihrer Zeit.
Michelangelo gehörte einer der alten Familien
des zünftigen Bürgerthums an, dessen Dasein von
politischen Stürmen erfüllt war; Lionardo, der
natürliche Sohn eines begüterten Landedelmanns
sah sich, ohne angeborene bürgerliche Stellung
in Florenz, als ein reicher, schöner, talentvoller
junger Mann, auf die Gunst geistreicher weltlicher
Fürsten: der Medici, Sforza, Borgia und des
Königs von Frankreich angewiesen; Raphael, der
Sprössling eines armen Malers aus dem Hof
gesinde der Herzoge von Urbino, fand an den
Höfen der Päpste sein natürliches Fortkommen,
hätte aber Kardinal werden können: alle drei
repräsentiren sie auch in ihrer Weise das italieni
sche Dasein des Jahrhunderts der Reformation.
Dergleichen Beobachtungen sind Gedankenspiele.
Michelangelo kann auch für sich allein genommen
werden und rundet sich wohl ab: erinnern wir uns
jedoch Lionardos neben ihm, so gewahren wir,
wie dieser im Sinne der heutigen Zeit natur-
forschender Positivist war, eine Seite, die Michel
angelo fehlte, und dass Raphael das Leben
jugendlich geniessend etwas (auch Mozart eige
nes) Frühlingsmässiges in seiner Kunst Hatte, das
dem fast als Kind schon von einer gewissen ält
lichen Weltanschauung angehauchten Michelangelo
ebenfalls fehlte. Auffallend auch, wie in Be
ziehung des rein Zufälligen wir mit dem Material
anders daran sind, das für dieser drei Meister
Erkenntniss erhalten blieb. Lionardos drei Haupt
werke: das Schlachtgemälde im Palaste der
Signorie in Florenz, die Reiterstatue Sforzas in
Mailand und das Abendmahl sind völlig oder bei
nahe zerstört worden; Raphaels Hauptwerke: das
Sposalizio, die Zeichnungen zu den Teppichen,
die Madonna von San Sisto sind dem römischen
Publikum seiner Zeit beinahe unbekannt gewesen,
und die Verklärung Christi sowie die Constantin-
schlacht unvollendet geblieben, während von
Michelangelo fast Alles erhalten blieb und meist
so zur Vollendung kam wie es beabsichtigt war,
nur das einzige Stück ausgenommen, das ihn
auch als Darsteller eines bedeutenden Menschen,
als Porlraitisten also, hätte beurtheilen lassen:
die Statue Giulios II. in Bologna, die zerstört
ward. Es bieten sich bei jedem Einzelnen die
ser drei Meister sehr verschiedene Aufgaben.
Bei Lionardo haben wir eine Fülle echtester
Handzeichnungen und eigenhändiger abgerissener
Notizen zu deuten und in Verbindung zu bringen:
die eigne Zeichnung, die ihn selber im Alter
darstellt, sagt beinahe so viel als Selbstbiogra
phie und Gedichte sagen würden. Bei Raphael
fehlt inhaltreiches Handschriftliches durchaus, dazu
ist Vasaris Biographie unzuverlässig und unkon-
trollirbar, des Meisters Gemälde und Zeichnungen