Full text: Rezensionen von Herman Grimm aus der Deutschen Litteraturzeitung (1886 - 1900)

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30 
aus : Deutsche Litteraturzeitung, Nr.29,1886,Jul.17, 
S. 1036 -1038 
Kunst und Kunstgeschichte. 
J. A. Crowe und G. B. Cavalcaselle, Raphael, sein Leben 
und seine Werke. Aus dem Englischen übersetzt von Carl 
Aldenhoven. II Bd. Mit 16 Tal'. in Lichtdruck. Leipzig, 
Hirzel, 1885. VII u. 477 S. gr. 8". M. 14. 
Den Hauptsachen nach gilt das über den ersten Band 
des Buches in der DLZ. (1884 Sp. 482) abgegebene Urteil 
auch hier. Die wichtige Arbeit hat nun ihren Abschluss 
gefunden und fügt unseren vielfachen Verpflichtungen 
gegen die Verfasser eine neue hinzu. Seltsam ist die 
heftige und zum Teil niedrige Polemik, die sich ge 
legentlich dieses letzten Werkes gegen Crowe und Ca 
valcaselle erhoben hat. Auch in Italien — oder ist das 
Gewitter überhaupt von daher über die Alpen geflogen? 
— macht sich eine böse Stimmung Luft. Einer der 
berühmtesten Statsmänner dieses Landes hat gelegent 
lich eine Vita di Raffaello erscheinen lassen und in der 
derselben angehängten Kritik der neuesten Litteratur 
über Raphael lesen wir, was unser Buch anlangt, fol 
gendes Gutachten: »Tutto il movimento della critica 
moderna e come se non fosse avvenuto. E mentre gli 
scrittori (Cr. und C. nemlich) abbondano di minute in- 
dagini e di particolaritä interessanti; pero ripetono alcune 
storie, che oggi dai piü sagaci si reputano inesatte, o 
che per lo meno, dopo tante polemiche che essi igno- 
rano o fingono d’ignorare, debbonsi citare fra le incerte.« 
Das sind die Worte, in denen das Urteil über dies be 
deutende Werk sich hier erschöpft. Wenn Cr. und 
C. für alles, was sie, man kann wol sagen, Ange 
sichts der civilisierten Welt, lange Jahre nun schon für 
den Ruhm und die Ehre Italiens getan haben, vom 
vornehmsten heutigen Repräsentanten des italienischen 
geistigen Lebens so abgefertigt werden wie hier ge 
schieht, dürfen sich freilich auch Andere nicht be 
klagen. Was den tatsächlichen Inhalt der Kritik Min- 
ghettis anlangt, so ist in Besprechung des ersten Bandes 
der Arbeit Cr. und Cs. in der DLZ. schon von mir 
dargelegt worden, warum es als eine unmögliche Auf 
gabe erscheinen müsse, Raphaels Leben zu schreiben, 
ohne einer gewissen Romantik zu verfallen. In Zer 
gliederung einer der phantastischen Conjecturen Cr. 
und Cs. habe ich da gezeigt, wie man dergleichen zu- 
geclrängt werde. Es ist als käme man ohne Con- 
struction fast novellistisch zugespitzter Verhältnisse und 
Scenen in manchen Fällen bei Raphael nicht aus. Und 
deshalb, wo über Raphael geschrieben worden ist: ent 
weder, die Biographen widerholen die alten »storie« 
oder erfinden neue. So ist es seit Vasari gehalten 
worden und der Verf. der neuesten Vita di Raffaello 
hat das so gut getan wie die Autoren des Life of 
Raphael, nur dass letztere sich im Vergleiche zu Andern 
noch zurückgehalten haben. Wenn, ferner, gesagt wird, 
»die gesammte Bewegung werde von den Verfassern als 
»non avenue« behandelt«, so ist dies eine unbegründete 
Behauptung, denn beinahe Seite für Seite werden in 
den von ihnen gegebenen umfangreichen Anmerkungen 
die Meinungen der Neueren besprochen. Was sie 
factisch unbeachtet gelassen oder absichtlich über 
gangen haben, ist, verglichen mit dem in den beiden 
Bänden enthaltenen Reichtume, kaum von Bedeutung. 
Wenn sie z. B. den Inhalt eines bekannten anonymen 
Buches, dessen Vorrede einen hämischen persönlichen 
Angriff gegen sie enthält, ignorieren, so kann niemand 
ihnen das verübeln. Was dieses Buch anlangt, würde 
Minghettis Vorwurf, »anno finto di ignorarlo« allerdings 
passen. Im grofsen und ganzen ist Alles verwertet. 
Die Raphael betreffende Litteratur der vier Nationen, 
die hier zumeist in Frage kommen, ist sehr umfang 
reich und in allen möglichen Büchern und Journalen 
zerstreut. Vollständige Kenntnis ist da kaum möglich 
und sogar Vergesslichkeit oft zu verzeihen. Ueber Ver 
nachlässigung dürfte sich z. B. Prof. Schmarsow be 
klagen, dessen Arbeit über die Malereien in der 
Bibliothek zu Siena im ersten Bande übergangen 
ward; auch von meinen Aufsätzen, obgleich ich mit 
Cr. befreundet bin und ihm die Dinge zusante, ist 
Manches unbenutzt geblieben: wer aber Avürde, avo 
eine so ungemeine Litteratur zu bewältigen Avar, Alles 
sofort präsent haben können? Auch R. Vischcr merkt 
in seinen Studien etAvas an, dessen Berücksichtigung er 
verlangen zu dürfen glaubte: trotzdem werden alle, die 
von Raphael Genaueres wissen, Gr. und Cs. Werk als 
eine aufserordentliche Leistung anerkennen und sich 
dem anschliefsen, was widerum R. Vischer, ebenda avo 
er Klage führt (Studien S. 601) im grofsen darüber 
sagt: »Ein ebenso bescheidenes als verdienstvolles und 
von Avahrer ausgebreitetcr Kennerschaft getragenes 
Werk ZAveier Begründer unserer Wissenschaft«. Es 
muste auf diese italienischen Stimmen hier deshalb 
näher eingegangen werden, Aveil auch deutsche Blätter 
sich zu ihrem Echo gemacht haben. Die Aufnahme, 
Avelche Cr. und Cs. Leben Raphaels beim europäischen 
Publicum finden wird, hängt hiervon nicht ab. 
Eine Aufzählung der Stellen, avo ich mit Cr. und 
C. nicht einverstanden bin oder aa’o sie nachAveisbar 
vielleicht irren, soll hier nicht gegehen werden. Manche 
ihnen eigentümliche neue Zeitbestimmungen würden 
besonders zum Widerspruche reizen. Zuweilen sind 
offene Versehen nachweisbar. Was ich meinerseits 
gegen das Buch im allgemeinen einzuwenden habe, ist 
in meinem Leben Raphaels gesagt worden, das so gut 
Avie ganz neugeschrieben und nun vollständig in 
zweiter Auflage eben erschienen ist und des Meisters 
ganze Tätigkeit umfasst. Meine Meinung geht dahin, 
dass eine Biographie Raphaels, wie Cr. und C. sie 
schreiben wollen, überhaupt nicht zu leisten sei. Das 
uns zu Gebote stehende, zum Teil kümmerlich gering 
fügige, zum Teil unzuverlässige Material gestattet es 
nicht. Die von Cr. und C., Avie von den anderen 
Biographen neben und vor ihnen innegehaltenc kata 
logisierende Behandlung der künstlerischen Tätigkeit 
Raphaels gewärt nicht den Anblick seiner Avirklichen 
Existenz, seines historischen Daseins, seiner persön 
lichen Schicksale! Meine Hauptarbeit war darauf ge 
richtet, aus den ungemein reichlich vorhandenen 
Skizzen und Studienblättern die Entstehungsgeschichte 
seiner Hauptwerke herauszufinden und daraus dann 
wider die Stellung zu deuten, die Raphael zu den 
geistigen Bewegungen der Jahrzehnte einnahm, in die 
seine Tätigkeit fällt. 
Noch sei bemerkt, dass der erste Teil des Buches 
auch in italienischer Uebersetzung (Firenze, Le Monnier, 
1884) erschienen ist, auf deren Titel Cavalcaselles Namen 
vorangestellt Avorden ist. 
Berlin. FI. Grimm.
	        
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