© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 30
aus : Deutsche Rundschau,1888, Sep,
Nr.?, S. 475
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% Alplionse Daudet, L’Immortel. Mceurs
parisiermes. Paris, Alplionse Lemeire. 1888.
Man führt den Zerstörungstrieb der Kinder
auf wissenschaftliche Neugier, zurück. Alles, was
sich fasten läßt, wird daraufhin untersucht, ob
es sich zerbrechen laste. Wir erleben eine ins
Colossale gehende Bethätigung dieser Art heute
bei den Franzosen- Frankreich scheint wenig
Dinge und Ideen zu besitzen, die diesem Triebe
nach Untersuchung noch Widerstand zu leisten
im Stande wären. Nur eins hatte man bisher
verschont: die Wissenschaft. An diese und an
ihre Diener wurde geglaubt- Die Akademie der
Wissenschaften in Paris, als Gegenstand einer
kindlichen Verehrung von Seiten der Nation,
war das hohe, man kann wohl sagen, an
gebetete Symbol dessen, was doch auch in Frank
reich als unangreifbar galt. Hier war echtes
Verdienst zu finden, die Erlaubniß gegeben, sich
berühmt zu fühlen, der letzte Zweifel über den
geistigen Werth eines Mannes hier beseitigt. Die
Fremden sahen Manches wohl lächelnd mit an,
was bei den öffentlichen Sitzungen geschah, kein
deutscher, englischer, amerikanischer Gelehrter
aber, der nicht stolz gewesen wäre, zu diesen Aus
erwählten sich gleichfalls zählen zu dürfen. Leere
Eitelkeit und Thorheit läuft ja überall mit, wo
die Weisen einherziehen, und immer ist es Un
würdigen gelungen, sich unter die Würdigen ein
zuschleichen. Wo aber wäre das jemals aus
geblieben, wenn Korporationen sich aus eigner
Wahl ergänzen? Wer wollte den Franzosen
hier zuut Vorwurfe machen, was von jeher über
all geschehen ist?
Und nun ein französisches Buch, das auch
die Akademie antastet! Wie eine lange Reihe
von Affen sollen ihre Mitglieder beim Begräb
nisse eines College« der Leiche gefolgt sein.
Spott und Schande wird über das Institut
ausgegossen. A. Daudet unternimmt es, einen
Roman durch diese Tendenz interessant zu
machen, der es ohne sie kaum wäre. Man
denke sich eine Menagerie aus räudigen Hyänen,
zahnlosen Tigern, rheumatischen Asten re.: so
etwa kommt Einem die Gesellschaft vor, die
hier als Repräsentant des heutigen „Sitten
lebens von Paris" uns vorgeführt wird.
Wir wollen weder bedauern n och prophezeihen,
noch überhaupt ein abschließendes Urtheil aus
sprechen. Wir registriren das Erscheinen dieses
Romans nur als Thatsacbe. Länger als zwei
Jahrhunderte hindurch ist an dem gewaltigen und
gerechten Ruhme zusammengetragen worden, der
die französische Akademie bedeckte, und heute wird
auch das mit Petroleum begossen und angesteckt.
Wie man unter der Commune die Vendome-
fäule umgestoßen hatte. Wie man unter der
ersten Revolution die Gräber der Könige zer
störte, ohne die Frankreich weder als Land noch
als Volk vorhanden wäre.
Daudet schreibt frisch und lebendig. Er
weiß die Witterungsumschläge der großen Stadt
trefflich darzustellen, die Mischung von Gestank
und Parfüm, die ihre Straßen belebt. Selbst
der Ausländer fühlt sich als Pariser, solange er
diese kleinen Capitel durchfliegt. Daudet ist gut
müthig: er weiß herzlich zu lachen und zu
weinen, und die Thränen, die er mit Beidem ent
lockt, sind echt. Daudet schreibt ein Französisch,
das man wachsen zu hören glaubt; so un
mittelbar springen seine Sätze auf, so angefüllt
vom Dufte des Augenblickes ist jede Phrase,
jedes Wort. Was aber hilft das Alles, wenn es
mit jener innern greisenhaften Gefühllosigkeit
gegen das gepaart ist, was den Stolz eines
Volkes ausmacht? Lägen die Dinge so, wie
Daudet sie schildert, so hätte er schweigen müssen.
Aber sie liegen nicht so. Jenes lebendig scheinende
Dasein, das sein Roman schildert, ist, ganz aus
der Nähe betrachtet, ein Tanz, den Gespenster
im vollen Sonnenscheine tanzen, eine im Frühlings
glanze der Wirklichkeit schimmernde todte und
kalte Lüge.