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: Erste Beilage zur Königlich privilegierten
Berlinischen Zeitung, Nr.217,1861,Spt.17, S. 2-3
Mariä Himmelfahrt, von Tizian,
copirt von Ratti.
-r Unterschied der heutigen Kunst von der, dlü vor emi-
hundert Jahren betrieben ward, liegt m ihrer Nothwen-
damals und in der gänr ich verschiedenen Stellung,
-welche sie heute dem Botte gegenüber einnimm Dre alten
italienischen Meister waren nur Werkzeuge. Brlder verlangte
man, die Ideals, welche das Volk im Herzen trug, erblickte
e-»m schönsten, wenn es fie in bunten Gestalten vor, sich
sah Undenkbar war den Leuten damals eine christliche Krrche
ohne bildliche Darstellung der Personen, ru denen sie beteten.
Man bedurfte de- Anblicks der billigen Jungfrau »nt vrr.
klärtem Gesicht, rothem Gewände und blauem Mantel.
Man wollte die Apostel vor sich haben: Paulus und
Petrus als starke, bärtige Männer, Johannes als frauen
haft reizenden Jüngling. Gottvater mußte herniederdUcken
mit hoher Stirn und gewaltigen Locken um Haupt und Lippen,
Christus mußte feine Augen aus unS nchten als emstes,
himmlisches Kind oder als remes mannlrcheS Antlitz, und bie
Engel auf zitternd schwebenden Gewöllen, dre Helligen m
wallenden Kleidern: Alles eine unendliche den Hrmmel ve«
wohnende Bevötterung. die den Seelen der Menschen ferner
gewesen wäre, hätten sie nicht die reinen Gestalten, die Kal-
, ten der Gewänder, das heranlockende Lächeln, den ewigen
! Aether mit Augen gesehen, als das Land der Sehnsucht, das
' itbem entgegenwinkre, der dahin emporsah,
j Das ist anders heute. Für die Befriedigung solcher Wünsche
' giebt eS keine bildende Kunst mehr. Die Zeit ist fortgesckrit-
i ten .Md die Gedanken haben die Stelle der sinnlichen An-
! scharrurrg eingenommen. Die Sprache ist in die Rolle der
bildenden Kunst eingetreten, ein reineres, mehr vermögendes
Werkzeug als sie. Zu der Zeit, als Rafael malte, gab e-
keinen Menschen, der mit den Worten einer Sprache hätte
! ausdrücken können, was Rafael in Linien und Farben kund-
| gab. Heute lebt kein Maler, der mit Rafael's Mitteln so
- viel zu offenbaren fähig wäre als ein Dichter mit dem Zau
ber des Wortes, daS die Welt beherrscht und dem alles An»
d?re als die g-ringere Macht sich unterordnet.
! Die Künstler jener vergangenen Zeiten, in denen die Kunst
, allmächtig war, stellten das Ideal des Volkes dar, der heu-
> tige Künstler giebt nur individuelle Anschauungen. Wir ha-
i ben keine allgemeine bildende Kunst mehr, sondern nur noch
Maler und Bildhauer, die sich so gut sie können verständlich
zu machen suchen. Gerade wie es vor Jahrhunderten keine
allgemeine Literatur gab, sondern nur einzelne Dichter und
Schriftsteller, damals wurden Gemälde geschaffen, bei deren An
blick Jeder empfand, das ist die höchste Form dessen, was in dir
selbst lebt, während die Schriftwerke für den Liebhaber mehr
nebenherliefen; heute werden Bücher geschrieben, die das er
füllen, währtnd die Kunst für die nebenherläuft, die ihrer
bedürfen. Die Rollen haben gewechselt. Gesagt muß eS
werden, einmal dann, wenn erklärt werden soll, warum die
heutige Kunst sich unaufhaltsam dem leichteren Spiel zuneigt
und lieber daö Angenehme, Interessante, Anmuihige, Rei.
rende, Befriedigende darstellt: Alles Dinge, die mehr zu
freundlicher Begleitung des Lebens dienen, während die
Kunst jener vergangenen Tage' das Tiefe, Emste. Erhabene,
Gewaltige ergriff, das den Kern des menschlichen Daseins bil.
dete und ohne das das geistige L.bcn nicht zu denken war.
Gesazt muß cS auch werden, wenn wir uns zu erklären
suchen, warum in den Bildern der alten Meister etwas stockt,
was uns in den äußeren Mitteln sogar, mit denen eS ge
schaffen worden ist, heute unübertreffbar, ja unerreichbar er
scheint. Die Mittel fehlen beute, weil der Ernst der Aufgabe
mangelt. Wie Tizian zu färben, dazu bedurite eS nicht al
lein seinrr Erfahrung und Wissenschaft, sondern auch deö Ge
wichtes, das seinen Werken inne wohnte. Man w. kleide heute
einem Maler die innere Ueberzeugung, seine Bilder feien so
hohen Zwecken dienstbar, wie eS vor Zeiten Tizians Werke
waren, ein Gemälde müsse die ganze Kirche durch
leuchten, und das Volk mit erhöhter Frömmigkeit er
füllen , oder» um etwas NäherliegendereS zu wählen,
man gebe heute einem Maler die Zuversicht, die Lein
wand, auf der seine Hand die Thaten unserer Zeit
oder unserer Geschichte darstellt, trage in Wahrheit dazu
bei, unS politisch vorwärts zu bringen: daS allein würde ihn
die rechten Farben finden lassen, um den Eindruck feines
Werkes dadurch so gewaltig zu erhöhen, als Refael und Tizian
durch ihre Farben ihre Gemälde mit glüh rüderem Feu-.r er
füllten. Doch wir wissen alle, daß heute das Bott oaS richt
mehr von den bildenden Künstlern verlangt. Wir wissen, daß
auf die Sprache diese Macht übergegangen ist. Kein Maler
oder Bildhauer lebt heute, glaube ich, der das zu brstrei*
tenwaate.