© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 G
£ ewua'-./n,^- "
>^D>iC 3ll ^iSrrreT-nUlD 11
■ Vsc X
.131UU 113.1
D
jr jiiWr-luio uns voraus in Ausuützuug der täg-
.. lichen Presse^. Bei Longfellows Tode fiel mir aus, als ich die
NewyorkG nüd Bostoner Blätter las, wie intim der Verkehr
derer Jw, die etwas zu sagen haben, mit denen, die etwas
hörest' möchten. Die Tribune war wie Newyork selber er-
zMt aus einige Tage von Longsellow. Reiben von Artikeln
brachte sie über den Mann, dessen Verlust jedes Haus betras
und über den Viele etwas zu sagen hatten. Durch eine Fülle
frciMiger Zeugenaussagen wurde das gesammte Publikum
wie-zu einer Jury über alles Longsellow Betreffende gemacht.
Jeder Sorte Meinung ward ihr Recht. Jeder wählte aus
diesen Mittheilungen, was ihm am meisten zusagte.
Dies gleiche Verfahren wiederholt sich jetzt bei Emerson.
Emerson hatte noch an Longfellow's Leichenbegängnis; theil-
genommen. Den 27. April brachte der Telegraph bic Nach
richt von seinem Tode herüber. Vierzehn Tage später kamen
die Zeitungen nach. Wiederum war aus allen Blättern sein
Name nun an erster Stelle zu lesen.
Zwischen dem, was über Longsellow und Emerson so ge
sagt worden ist, waltet jedoch ein Unterschied. Longsellow
stellte man hoch, wie er es verdient hat, und die Lorbern
wurden nicht gespart. Die Urtheile über ihn lauteten ganz
sicher. Man wußte, mit wem man zu thun hatte. Longsellow
war ein Dichter und seine Stellung zur Weltliteratur oft be
sprochen worden. Es konnte kein Zweifel darüber sein, was
ihm gebühre. Bei Emerson war der Ton, in dem man sprach,
höher und niedriger zu gleicher Zeit. Es klang, als bliebe
etwas unausgesprochen. Die Wirkung der Schriften
Emersonö und seiner Persönlichkeit ging tiefer als
bei Longsellow, aber nicht so sichtbar in die
Breite als bei diesen!. Enierson trug keinen offiziellen
Titel für das, was er war. Er begann als Prediger, gab
das Predigen dann aus und zog sich als Schriftsteller m eine
Art Einsamkeit zurück in der er verblieb. Die Einen nennen
ihn jetzt „Essayisten", die Andern einen Philosophen, die
Dritten ihn einen Dichter, Manche auch alles Dreies zu
sammen. Wieder Anderen genügt das nicht, sie sagen Emerson
sei ein Prophet gewesen. Darin stimmt man heute wohl
überein: daß Emerson einer der größten Männer war, die
Amerika hervorgebracht habe. Dies besonders auszusprechen
aber, wenn es einmal angenommen wird, scheint überflüssig,
und es im Einzelnen zu begründen, darf späteren Genera
tionen überlassen bleiben. Eine der aus Emerson gehaltenen
Reden hebt an: nur Shakespeare könne neben Emerson ge
nannt werden. Wem wäre soviel zu sagen bei Longsellow
eingefallen? Man sollte meinen, wer eine Rede so begonnen,
werde seine Behauptung nun begründen: aber der Verfolg ist
in so gemäßigtem Tone gehalten, als bedürfe es keiner Be
weise für den Satz, sondern Jeder sei einverstanden und man
habe sich damit begnügen dürfen, daran zu erinnern. Bei
allem, was ich jetzt über Enierson lese, gilt als natürliche Vor
aussetzung, jeder Amerikaner kenne ihn und wisse, was das
Land an ihm gehabt und an ihm verloren habe.
Von Emersons Lcbensdatcn ist wenig zu sagen. Er
wurde den 25. May 1803 in Boston geboren, studirte
Theologie bis 1820, begann 27 zu predigen und zog sich
1L35 nach Concord zurück, die kleine Stadt, die acht Genera-
iiDiuoio^.ynpSs nl üpm stchg uZjuuoz I
nciicn'”fvus}a-vvn eiMm letiifft . Qupifyjjiwni
war. 1832 ging Emerson zuc^stt^ '"eD Frank
reich, Italien und England ,7a, Nature. 47
besuchte er England zum -J 9 und veröffentlichte
hinterher die English; Traits. ''Urn letztes. Buch, Society
and Solitude, kam 70 heraus, 71 die letzte Sammlung seiner
Schriften?) Sein Leben hatte nichts Romantisches. Nie siel
frappantes Licht aus ihn. Es bedarf nicht einmal der
chronologischen Aufzählung seiner Schriften, die fast alle
derselben Art sind und deren keine augenblicklichen Erfolg
hatte. Nature, obgleich das Buch — wenn man den aus
gedehnten Aussatz so nennen will — einschlug, brauchte zwölf
Jahre, ehe 500 Exemplare abgesetzt waren. Es wird von
Vielen für das Beste gehalten, was Emerson geschrieben hat.
Es zeigt seine eigenthümliche Art, die Dinge anzufassen, be
reits in voller Ausbildung und ist am besten geeignet, uns in
seine Anschauungen einzuführen.
Emerson geht von einem Gedanken aus, der Amerika
früher bewegt hat als uns.*) **)
Auch uns steigt heute die Frage auf, wie es den folgenden
Generationen möglich sein werde, die ungeheuren geistigen Vor-
räthe, die, seit Jahrhunderten zusammengebracht, noch immer in
kolossalerWeise vermehrt werden, zu bewältigen ohne der eigenen
Arbeit Eintrag zu thun. Unsere besten Kräfte scheinen kaum zuzu
reichen, das vor uns Gethane auch nur zu überblicken. Es
würde als eine Wohlthat begrüßt werden, wenn Jemand
überzeugend bewiese, es dürfe von dem endlosen geistigen
Nachlasse der Vorfahren abgesehen und mit wenig Handgepäck
weiter fortgeschritten werden.
Den Amerikanern, als sie anfingen auch geistige Reich
thümer zu erwerben, mußte diese Frage schon um deshalb
mehr Besorgnis; erregen, als sie nicht wie wir daran gewöhnt
waren, den Rucken zu beugen. Emerson's Nature entsprang
den Gefühlen eines Mannes, der tief genug in die europäische
Literatur eingedrungen war, um ermessen zu können, was bei
der Erringung dieser Reichthümer auch verloren werden
könne. ZunEUebermaß ist Goethe's Vers citirt worden von
den Ritterburgen und Basalten, die Amerika fehlten, und wie
man es dort deshalb besser habe. Emerson verlangte, daß seinem
Volke der Vortheil gewahrt bleibe, sich die unbefangene
Kritik des Geschehenen nicht durch Herübernahme der euro
päischen historischen Lasten verkümmern zu lassen. „Unsere Zeit,
beginnt Nature, blickt hinter sich. Wir errichten unsern Vätern
Grabmouumente, schreiben Geschichte, Biographien, Kritiken.
Frühere Geschlechter hatten Gott und Natur von Angesicht
zu Angesicht vor Augen: wir glauben nur an das, was Ändere
vor Zeiten gesehen haben. Warum sollen wir der Schöpfung
nicht frei entgegentreten wie sie? Warum uns nicht unsere
! Dichtkunst und unsere Philosophie aus dem ewig sich erneuen
den Wesm der Dinge formen, statt immer nur auf das Ueber-
lieserte zurückzugehen? Dauert die Offenbarung nicht fort?
>aus^
ÄV “«fl im erst
—keim „
■ei für Lande
*) Sein in der Century (Februar 82) gedruckter Essay The
Superlative ist eine frühere Arbeit.
*'•■) Wenn hier und an airderen Stellen kurzweg Amerika ge
sagt wird, verstehe ich darunte. 'Ren-England und Massachusetts
in erster Linie als die Staatsn, in denen die geistige Bewegung
hervortritt.
"il'gmm imv / md)t -m lebenmS, Athein
lings heute mit unverminderter Kraft nnd simt- ?! L,vr
Herz mit ahnungsvoller Sehnsucht? Sellen wir ltur
mit den Händen in dürren Gebeinen wühlen und das hentiee
Leben nur verstehen insoweit es als Maskerade längst vcu-
gangene Zeiten zu wiederholen scheint?" Und nun entwickelt
Emerson das, was er seine „Theorie der Natur" oder „des
Lebendigen" oder „der Schöpfung" nennt. Nicht im Sinne
der exakten Naturwissenschaft, sondern indem er alles Sicht
bare in einfache Kategorien bringt und den heutigen Men
schen als regierenden Herrn mitten hineinstellt.
Wie sehr Emerson hier das vorausgeahnt hat, was heute
in Amerika der vorherrschende Gedanke ist, oder, wie sehr
jene Lehre Emerson's dem heutigen Amerika in Fleisch und
Blut übergegangen sei, zeigt die Beschaffenheit des dort sich
regenden wissenschaftlichen Lebens. Bei uns geht man aus
von dem, was die Wissenschaft für sich verlange — gewiß der
höhere Standpunkt; in Amerika von dem, was den Lernen
den dienlich sei — in vielen Fällen der praktischere und
besser zum Ziele fiihrende. Zuerst sollen die Lebenden zu ihrem
Rechte kommen. Ich empfing dieser Tage das letzte Jahr
buch der Cornell-University. Sie ist von dem Privatmanne,
dessen Namen sie trägt, gegründet worden. Auf dem Titel
des Jahrbuches ist Cornells Portrait gegeben mit der Umschrift:
„Ich möchte eine Anstalt gründen, ist der Jedermann sich in
jeder Weise unterrichten könnte." Unter dem allgemeinen
Titel: Departments and special courses ok sind)' finde ich
in dem Buche einen Abschnitt, welcher eine Auswahl vor
geschriebener Studienpläne als Vorbereitungen zukünftiger
Lebensstellungen enthält. Theologie und Jura sind aus
geschlossen, sonst von Agriculture bis ‘Sciences and Lettres
Alles berücksichtigt, was überhaupt wissenschaftlicher Vor
bereitung bedarf. Mit voller Kenntniß des Volkscharakters
sind dem Studenten eine Anzahl Carrieren in Aussicht ge
stellt und die Stufen angegeben, auf denen er fortschreitet?)
CVA. SaS Vnots £»ct s?rs\ fülltet hitvTnptet. Vier
und
Art be-
und auf dem kürzesten Wege sich anzueignen. Emersonv Lehre
ist die von der Souveränität der Persönlichkeit. Zu erkennen,
wofür ein junger Mensch gut sei, und ihn rücksichtslos für
den Weg, den er einschlagen will, auszurüsten, ist die große
Pflicht, auf die er hinweist. Emersonö Essays sind im Hin
blick auf dieses Ziel geschrieben. EL will die Menschen unab
hängig machen. EL "entfaltet vor den Augen des Idealisten
die großartigen Erfolge der realen Thätigkeit und breitet vor
den Blicken des Realisten die Hoheit der idealen Gedanken
arbeit aus. Niemand soll sich durch einseitigen Einfluß zu
unrichtiger Wahl der Aufgabe verleiten lassen, für die er
*) The Cornell University Register 1881—82. Ithaca, N. Y
Das Buch ist eine Verbindung von Personalverzeichniß und
Direktiven für die Studenten. Präsident der Eornelluniversität
ist Mr. White, der letzte amerikanische Gesandte in Berlin, der
in diese Stellung zurückgekehrt ist.