K
© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 26
wtrss20 510
1
aus seiner Brusttasche, „das hat sie mir geschrie
ben, heute! Ich soll nicht mehr an sie Denken, sie nie
wieder sehen, aber sie liebt mich! Haben Sie das ge
wußt? Sie liebt mich!"
„Lassen Sie mich sehen!" rief Albert und streckte
die Hand aus. — „Hier, aber Sie werden eS mir zu
rück geben, es ist mein Eigenthum!"
Albert überlas die wenigen Zeilen. Er bedachte
sich in Blitzeseile. Dort war sie, ohne ihn gesehen
zu haben, hier Emil, ohne von ihr zu wissen. Er
hatte auf sie verzichtet, sie auf ihn. Die Zeit konnte
ausheilen, was so blutig zu zerreißen drohte, er durste
sie an seiner Seite behalten; so war ihr Entschluß, er
las es von ihrer Hand geschrieben, oder er glaubte es
zu lesen. Nie war sie ihm so schön vor die Seele ge
treten, nie so reizend; es war ihm, als hätte er sie
heute zum erstenmal geliebt. Aber nur ein Moment
solchen Bedenkens kam über ihn; er gab Emil das
Papier zurück und sagte milde: „Wollen Sie hier ein
wenig warten, bis ich wieder komme? Thun Sie's, ich
bitte Sie darum." Damit ging er an ihm vorüber
und eilte zu der Stelle, wo er Emma verlassen hatte.
Diese war aufgestanden und kam ihm langsam entge
gen; als sie beide eine kleine Strecke von Emil ent
fernt waren, hielt er sie an.
„Emma," sagte er, „sieh dorthin! Geh' dem ent
gegen, der da steht! Was er von dir verlangen wird,
was du ihm gewähren möchtest, schenk' es ihm aus
vollem Herzen; vergiß mich, denke nicht an mich, wenn
du bei ihm-bist, ich erlaube es dir, ich befehle es dir,
wenn ich darf; und glaube mir, was daraus entsteht,
bedürft ihr beide einer Vorsorge, einer Vermittlung, wendet
euch an mich; das ist das lezte, daö ich von dir ver
lange."
Als er dieß gesagt, wandte er sich rasch um und
verließ mit eilenden Schritten das Mädchen, daS wie
leblos vor ihm stand und keine Sylbe zu erwiedern
vermochte. Am Thore des Gebäudes angekommen,
zwang ihn doch etwas, sich umzuschauen, und er sah,
wie sie beide in der Sonne neben einander standen;
genug für seine Augen.
Fliegen wir hinweg aus dem schönen Lande, wo
es schon Frühling war, fort über die Alpen, immer
weiter, und mit uns die Zeit.
Es lag tiefer Schnee in den Straßen; die Sonne
ging trübe auf und leuchtete bleich durch die kalte Luft.
Das helle Feuer im Ofen besiegte und überstrahlte sie;
doch nicht ganz. Ein freundlicher Strahl blickte in ein
Stübchen, vor desien doppelten Fenstern Blumen stan
den, lief quer über einen Tisch, über einen offenen
Brief, der darauf lag, und über den Scheitel eines
jungen Mädchens, daS ihn las und laut auflachte, als
sie ihn beendet.
„Therese," sagte die alte Tante, welche neben ihr
stand, „ich würde nun nicht gerade lachen, denn der
junge Mann ist von guter Familie und sehr liebens
würdig."
„Das bin ich gleichfalls, Tante, das also höbe
sich vorweg auf," antwortete sie und lachte wieder.
„Aber reich außerdem, liebes Kind." — „Nun, ich
hätte doch auch am Ende zu leben." — „Kurz, du machst
dir nichts daraus?" — „Das will ich nicht sagen.
Aber es ist doch kein Unglück, bei dergleichen Gelegen
heiten ein wenig zu lachen? Es kann das ja ein Zei
chen von Wohlgefallen seyn. Lassen wir wenigstens
ein paar Tage darüber hingehen." — „Das brächte
schon jedenfalls die Schicklichkeit von selbst mit sich,"
antwortete die alte Frau, küßte des Mädchens Stirn
und ging leise über den Teppich hinaus. Therese blieb
an ihrem Tische sitzen. Sie hatte den Brief bei Seite
geschoben. Auf dem Schreibtische lagen nicht weniger
als ein halbes Dutzend blanke, große Pinienzapfen, die
ihr Emma geschickt hatte. Sie nahm einen nach dem
andern, roch daran, streichelte ihn und legte ihn wie
der an seine Stelle.
Ein Bedienter trat mit einer Karte herein. Der
Herr wartete unten. Sie las den Namen und stieß
einen Schrei auS. „Gleich soll er herein kommen!"
Der Bediente ging, sie sprang auf nach der Thür und
zog mit beiden Händen Albert herein. Er war unge
mein freundlich und frisch von der Kälte, aber er sah
ein wenig anders auS; er hatte einen gewissen Zug
über den Augen und einen um den Mund, die sie so
gleich bemerkte und die sogleich ihre Stimmung in der
Gewalt hatten. „Hier ist ein Brief für dich, liebe
Therese," sagte er. „Vor allen Dingen lies ihn erst,
ich wärme mich so lange dort ein wenig." Damit jezte
er sich in den großen Stuhl, der dem Ofen zugewandt
war. Therese erkannte ihrer Schwester Hand, brach
auf und laS, und da sie im Stehen begonnen hatte,
sezte sie sich während des Lesens nieder, und nach ei
ner Weile stüzte sie den Kopf in die Hand und sah
über den Brief hinaus auf den glatten Tisch, während
eine Thräne nach der andern auf das Papier tropfte.
Sie schwieg, sie sah nach Albert, der Stuhl verbarg
ihn, aber sie hörte seinen Athem. „Albert," sagte sie
endlich, „waS soll ich dazu sagen?" — „Daß es das
Beste war, liebe Therese." Sie ging auf ihn zu und
stellte sich neben ihn, aber er sah nicht zu ihr auf.
Er war wie sonst und doch anders. Als er im
Herbst ankam, als er sich verlobte, als er sie dann
5t 1
verließ, lag auf ihm ein Schimmer, der etwas Be
herrschendes hatte, etwas, das im Accent seiner Rede
durchklang, in seinem Gange lag, in seiner Handschrift
sich aussprach: Selbstvertrauen, mehr noch, Gefühl von
Unfehlbarkeit. Daö war von ihm gewichen. Er saß
da wie jeder andere. Sein Rang, seine Erfahrungen,
seine liebenswürdige Art, die Menschen zu fesseln und
zum Zuhören zu zwingen, alles war zu leerem Flitter
kram zusammengesunken, er war nicht mehr stolz dar
auf. Er war ein Mensch wie alle andern und hatte
ein Herz wie alle andern, eines, das sich beleidigt in
ihm hin und her drehte, wie ein losgerissenes Schiffs
trümmer in den Wellen, die es nicht versinken lassen,
aber dahin und dorthin werfen, und endlich auf den
öden Strand.
„Gib mir eine Hand," sagte sie. — „Du bist
immer die alte Freundliche," antwortete er und reichte
sie ihr. — „Ach, Albert," sagte sie wieder, „ich sehe
Alles ein, es macht mich ganz traurig. Und du? was
willst du nun thun?" — „O, die Eisenbahn geht ja
alle Tage ab; ich gehe nach Paris, London, Madrid,
Cairo, wohin du willst. Man thut, was man gewohnt
ist, wenn man nichts Nöthigeres zu thun hat. Soll
ich mich etwa auf daö Land setzen und alle Sonntag
zum Essen hinüber fahren zu Emil und seiner Frau?"
Er lachte. Dann aufstehend und sich den Rock zuknöpfend
sagte er: „Ich wollte dich nur noch aufgesucht haben,
Therese." — „Bleib noch ein Weilchen," sagte sie. —
„Ist es dir lieb?" — „Ja, sehr lieb."
Er nahm seinen Platz wieder ein. Er sah sich
um, alles heimelte ihn an, alles war ruhig und be
haglich. Draußen hörte er die Wagen im Schnee vor
über fahren und die Räder pfiffen noch im Frost; aber
der Ofen strahlte sanfte Wärme aus. Seine Kisten
und Seltenheiten fielen ihm ein, als er auf einem
Schränkchen allerlei stehen sah, das er Theresen ge
schenkt hatte. Ein Ekel überkam ihn vor allen diesen
Dingen, ein Ekel vor dem planlosen Umherschwärmen
durch die fremden Länder und die fremden Gesichter.
Eine Leidenschaft hatte er bis auf den lezten Tag zu
Emma nicht gehabt, aber alle Gedanken an Glück und
Zukunft mit Energie an sie gekettet. Das war nun
von ihm gerissen; jedermann war froh und an der
rechten Stelle, er allein war überall zuviel; er konnte
es nicht mehr ertragen, er mußte fort.
„Therese," sagteer, auf die Uhr sehend, „ich habe
wirklich noch einige dringende Geschäfte. Leb' wohl!" —
„Du willst durchaus fort — leb'iwohl!" — „Gibst du
mir vielleicht ab und zu Nachricht, wie es bei euch steht?"
sagte er noch. „Ich lasse dir für verschiedene Punkte
meine Adresse hier, wenn du es erlaubst?" — „Und
ln« soll dein Abschied seyn, und vielleicht für immer?"
Sie wandte sich ab, um ihre Thränen zu verbergen.
„Geht es dir wirklich so nahe? Lieber Himmel,
was kann ich dir seyn? was soll ich hier sitzen? was
haben wir zu besprechen?" - „Ja, du hast Recht"
rief sie heiter; „Adieu!" Cr drückt- ihr die Hand und
stand an der Thüre, sie sah ihm nicht nach.
„Therese," sagte er, „thut eS dir wirklich leid, daß
ich fortgehe?" — Sie sagte nichts; sie sezte sich hin,
stüzte den Kopf in beide Hände und weinte. „Gu
tes Mädchen, du läßst ßiüch schwerer los als die an
dern, die sich so leicht getröstet haben, als ich ihnen
die Sache plausibel machte." Er stand neben ihr und
streichelte ihr das Haar. „Adieu," sagte er plötzlich,
nahm ihre Hand, drückte sie und war verschwunden.
Er hatte vor seiner Abreise noch einmal zu ihr
gehen wollen, aber eö war ihm unmöglich, er wußte
selbst nicht warum; er schrieb ihr einige Zeilen und
stieg in das Coups, ohne sie gesehen zu haben. Er
saß in seinen Pelz gehüllt und war ganz allein. Die
Landschaft flog schwarz und weiß an ihm vorüber, der
Dampf spielte über die Felder hin, oder zwischen den
tanzenden Stämmen des Waldes; ersah ihm nach und
verfolgte die Krähen mit den Augen, die aus den dun
keln Gipfeln der Kiefernbäume aufschwärmten.
Als er von Rom abgereist war, hatte ihn nicht
ein so ödes, trostloses Gefühl beherrscht, wie daö war,
das sich seiner jezt bemächtigte. Es erfaßte ihn plötz
lich eine wahre Zuneigung zu Menschen; er glaubte,
sie ließen ihn allein stehen, während er ihnen doch
selbst auswich. Auf der nächsten Station suchte er ein
anderes, besezteres Coups auf; es saß eine ganze Ver
wandtschaft darin, welche eben erst eingestiegen war
und zu einer Hochzeit reisen wollte. Sie verließen den
Zug auf dem nächsten Anhaltspunkte wieder. Waö für
ein Gelächter und Gespaße! Jeder war nothwendig und
gehörte zu der Gesellschaft. Als sie davon gingen und
er abermals allein zurück blieb, sah er ihnen mit unendlichem
Wohlgefallen nach; ich glaube, wäre eines an ihn herange
treten und hätte ihn eingeladen, mitzugehen, so hätte
er seine große Reise nach Konstantinopel unterbrochen,
um in dem Städtchen eine Nacht im Wirthshause zu
tanzen. Je weiter er kam, je unerträglicher ward ihm
zu Muthe. Abermals wechselte er den Sitz, fing, was
er sonst nie gethan und stets vornehm abgelehnt hatte,
mit den Leuten Gespräche an, nahm sich vor, liebens
würdig zu seyn, und brachte eö wirklich dahin, daß
ein alter Herr aus der Stadt, in der er übernachten
wollte, und wo man zeitig anlangte, ihn auf den
Abend zu sich einlud, was mit wahrhafter Dankbarkeit
von ihm angenommen wurde.