Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über Erzählungen und Gedichte

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Verstand, Vernunft, Gedächtniß, Phantasie, Willenskraft 
u. s. w. Offenbar ist diese Antwort im Grunde so 
viel wie gar keine; die Möglichkeit und das Geschehen 
der Thatsache wird nicht erklärt, sondern nur wieder- 
holentlich behauptet, die Frage nicht beantwortet, son 
dern nur weiter geschoben. Man hat sich bekanntlich 
lange und in vielen Kreisen bis auf den heutigen Tag 
mit solchen Antworten genügen lassen; was aber wür 
den wir von einem Physiologen denken, der uns auf 
die Frage: wie und woher geschieht der Verdauungs 
proceß? antwortete: durch die Verdauungskraft; und 
der Blutumlauf? durch die Circulationskraft! Eine 
Thatsache erklären heißt — um es so deutlich als mög 
lich zu machen — nichts Anderes: als die Bedingungen 
nachweisen, unter denen sie geschieht. Es ist allerdings 
richtig, wenn man sagt, der Mensch denkt, weil er es 
kann, das Vermögen dazu hat; es ist nur damit die 
eigentliche Frage nicht gelöst. Dieß zeigt sich vollends, 
wenn man näher auf die Mannigfaltigkeit der psychi- 
ichen Thatsachen hinsieht. Die Erinnerung, sagt man, 
geschieht durch die Gedächtnißkraft; einer hat nun eine 
sehr bedeutende Fertigkeit sich vieler Zahlen, etwa aus 
der Geschichte, zu erinnern, er hat also eine große, starke 
Gedächtnißkrast. Aber er kann sich eines Menschen, 
den er vor Jahren gesehen, nicht erinnern, auch die 
Namen in der Geschichte und im Leben vergißt er leicht, 
ein Gedicht auswendig zu lernen wird ihm schwer; man 
sagt: er hat nur Zahlengedächtniß, wie andere wie 
derum nur Lokal», Namen -, Physiognomiengedächtniß 
haben. Es ist mit den andern sogenannten Kräften 
nicht anders; der eine hat praktischen, der andere theo 
retischen oder mathematischen oder juristischen Verstand; 
das Gefühlsvermögen ist in dem einen als patriotisches, 
im andern als SchönheitS- oder Freundschaftsgefühl rc. 
vorwiegend. Es ist offenbar, daß der Theilung der 
Kräfte kein Ende ist, und genau genommen wurde man 
fast so viel Kräfte als psychische Processe finden, in 
so fern fast alle von einander abweichen. 
Um also die Mannigfaltigkeit der Thatsachen gegen 
über dem fortdauernd in jedem Menschen lebhaften Be 
wußtseyn einer entschiedenen Einheit seiner Persönlich 
keit und seines Ichs in allen diesen verschiedenen Er 
scheinungen und Bewegungen seines Innern zu erklären, 
werden der Seele eine Unzahl von Kräften angedichtet. 
Ueberhaupt spielt oft der Begriff der Kraft die Rolle 
des Statisten auf der Bühne der Wissenschaft, der alle 
mal da eintritt, wo man nichts mehr zu sagen hat. 
Bedenkt man ferner, wie oft, ja fast immer, eine Mehr 
heit dieser Kräfte zu gleicher Zeit und bei einem und 
demselben psychischen Processe thätig sind — wie wenn 
z. B. ein Dichter einen Vers schafft, muß der Wille 
vor allem thätig seyn, und die Gedächtnißkraft, um ihm 
die Worte zu bringen, die Einbildungskraft, der Ver 
stand, das Gefühl, die Empfindung, ja was müßte 
nicht alles mithelfen? — dann wird uns die Vielheit 
der Kräfte wohl verdächtig, und wir werden vermuthen, 
es möchte die Einheit, von welcher allein wir ein Be 
wußtseyn haben, wohl ungestört seyn, und wir müssen 
uns nach andern Erklärungsgründen für die Mannig 
faltigkeit umsehen. - Je tiefer aber das Vorurtheil von den 
vielen und verschiedenen Seelenvermögen nicht bloß durch 
die Wissenschaft, sondern die Sprache selbst eingewur 
zelt ist, desto weniger darf ich mich mit diesen Bemer 
kungen zu seiner Widerlegung begnügen. 
Ich erinnere deßhalb noch an Eines. Wie das Zu- 
sammenwirken mehrerer K-ist-, deren harmonische und 
al-ichj°i.ig° Bewegung zum Effekte ra.hselhnf. werd, 
wenn man nicht noch -in- besonder- oberste Kraft wir- 
der erfindet, welche alle in Schwung bringt und auch 
in lgucht hätt - wozu manche da« Wille,-svermögen aus. 
ersehen aber vergebens, da dieses nur wollen und nichts 
als wollen kann, also weder die Einbildungs. noch die 
Gedächtniß- oder -me andere Kraft in Bewegung setzen 
oder hemmen, beleben oder --todten kann - wie, sage 
ich das Zusammenwirken mehrerer, wird nun hinwie 
derum das Ruhen und Unthätigseyn anderer Kräfte, 
wahrend andere sich bewegen (oft zum größten Schaden 
des Menschen, wie wenn der Verstand schweigt, wäh 
rend die Leidenschaft herrscht), ebenfalls zum Räthsel; 
denn eine Kraft ist durch sich selber thätig und eine 
schlummernde Kraft ist eben keine. Warum also schweigt 
der Verstand während der leiden,chaftlichen That. und 
weiß hinterher so gar klug und scharf zu reden? Jezt 
denkt der Mensch klar und sicher und sieht seinen Fehler, 
weßhalb? Zuweilen — aber nicht immer, ich sage mit 
Nachdruck, nur zuweilen - hat der Verstand wirklich 
gesprochen, er wurde aber vom Willen nicht gehört, 
und das Begehren hat gesiegt; dann sagen wir, die 
Leidenschaft war stärker als der Verstand, und ein an 
deres mal ist wohl in demselben Menschen, sogar in 
gleichem Falle, der Verstand stärker als die Leidenschaft. 
Also die Kräfte sind von verschiedenem, wechselndem 
Maß; unter welchen Bedingungen wechseln und wachsen 
die Kräfte der Vermögen? 
Doch halt! hier geht offenbar der Weg in die ma 
thematische Psychologie, in die Berechnung steigender 
und fallender, streitender Kräfte bei dem psychischen 
Proceß, und dieser Weg blieb bei aller früheren Psy 
chologie, vollends der Vermögenölehre unbetreten; hier 
heißt eS immer nur, der Mensch kann das und das, 
weil er die und die Kraft hat, jenes nicht, weil ihm 
diese fehlt. Hieran knüpfen sich noch tiefere Mängel 
dieser Lehre, die an noch einfacheren, bekannteren That 
sachen sich bloßlegen. Der Verstand soll ein Vermögen 
seyn, Begriffe, die Vernunft ein Vermögen, Ideen zu 
bilden und zu verknüpfen. Verstand und Vernunft sind 
also Kräfte, ureigenthümliche angeborene Eigenschaften 
des menschlichen Geistes; aber unsere Bauern haben 
und verknüpfen keine Ideen, die Kaffern und die Meri- 
kaner haben nachweislich keinen Verstand im L>inne 
dieser Psychologie, welche demnach nur eine der hoch- 
civilisirten Menschen ist. Oder sind jene keine Men,chen? 
oder gibt es Seelen mit dreien oder vier oder sechs 
Vermögen? Die gewöhnliche Antwort, z. B. bei Hegel, 
ist: die Vernunft schlafe oder träume noch in diesen un 
entwickelten Individuen und Völkern; aber eine ichla- 
fende, träumende Vernunft ist eben keine. Man hat die 
Thatsachen des höheren geistigen Lebens ,chlecht er 
klärt , indem man sie einer angeborenen Vernunft zuge 
wiesen, und muß deßhalb sogar gegen oder vielmehr 
ohne alle Thatsachen der Seele des Indianers eine 
schlafende Vernunft andichten. 
Aber die Kinder, wird jeder fragen, beweisen sie 
nicht — ? Ja wohl! aber das Gegentheil! Wären Ver 
stand, Vernunft rc. angeborene Kräfte, so bedürfte es 
der Erziehung nicht. Aber die Kräfte müssen doch ge 
übt werden? Das ist nun so einer von den ererbten 
falschen Begriffen, wo man einen logischen Fehler durch 
einen zweiten verbessert. Was eine angeborene Kraft 
ist, braucht eben nicht geübt zu werden, sonst fehlt 
eben noch die Kraft; sie muß erst gewonnen wer 
den, sie war also nicht angeboren. Das Licht braucht 
sich an das Leuchten, der Stein an daS Fallen, das 
Feuer an's Brennen nicht erst zu gewöhnen, es sind 
eben Kräfte. 
Doch genug! ich will nicht mit Polemik — ob 
wohl die wichtigste über einen so wichtigen Gegenstand— 
ermüden, und gehe daher zum wesentlichsten Punkte, 
der oben bereits angedeutet ist, über. Nämlich dieses: 
wäre auch gegen die Theorie von den Seelenvermögen 
gar nichts mit Fug einzuwenden, sprächen weder That 
sachen noch Spekulation dagegen, so bliebe sie immer 
noch durchaus unzureichend, die Ereignisse des Seelen 
lebens im wissenschaftlichen Sinn zu erklären. Denn 
gesezt auch, die verschiedenen Thätigkeiten geschehen 
durch verschiedene Kräfte, so fragen wir, nach welchen 
Gesetzen wirken diese Kräfte? Seit Jahrtausenden 
wußte man, daß die Körper durch eine Kraft zur Erde 
fallen; denn sie fallen, also müssen sie fallen können, 
eine Kraft zum Fallen haben; aber die Fallgesetze, die 
Bedingungen des Falls und sein Maß, das ist eine 
Entdeckung der neueren Wissenschaft, und jezt erst ist 
die Rede von der Schwerkraft als einer eigenthümlichen 
Erkenntniß. So auch müssen die Gesetze der geistigen 
Kräfte, die Bedingungen des psychologischen Geschehens 
aufgesucht und aufgezeigt werden, und das ist es, wo 
nach die frühere Psychologie nicht einmal zu fragen 
wußte. 
Da trat eine Sonne am Himmel der Philosophie 
unseres Jahrhunderts hervor, und es ward Licht, und 
es sendete seine Strahlen in das ChaoS der Psychologie, 
sonderte, vereinigte und belebte jegliches Ding nach 
seiner Art und wirklichen Beschaffenheit. Johann Friedrich 
Herbart, * der Newton der Psychologie, trat mit 
der großen Frage auf nach dem Gesetz des geistigen 
Lebens, und seine Antwort ist die Frucht eines Viertel- 
jahrhunderts voll der angestrengtesten, tief eindringen 
den Arbeit. Hat er diese vollendet? Welches menschliche 
Werk wäre vollendet! Aber er hat den ersten Grund 
gelegt zu dem Bau einer Wissenschaft, welche sich so 
lange fort entwickeln wird und muß, als der mensch 
liche Geist, ihr Gegenstand, weiter schreitet. 
Aber wie? hat Herbart durch seine Spekulation 
ein neues Grundwesen in der Seele aufgefunden? oder 
hat seine Erfahrung ein neues Land im Reiche des 
Geistes entdeckt? Nichts der Art, nichts Ungeheures, 
Ungewöhnliches, sondern ein im innersten Grunde, wie 
die Wahrheit selber allezeit, Einfaches. 
Was nicht bloß die Psychologen, sondern jeder 
irgend Denkende längst gewußt, was sich in den bild 
lichen Ausdrücken der Sprache als gemeines Bewußt 
seyn und allgemeinste Erfahrung kund gibt, hat er fest 
gehalten, weiter geführt und zum Gegenstände wissen 
schaftlicher, meist mathematischer Forschungen gemacht. 
Jeder spricht und weiß innerlich von dem Unterschiede 
einer starken und einer schwachen, einer mehr oder we 
niger deutlichen, lebhaften Vorstellung, eines schnelleren 
oder langsameren Denkens, eines in's Bewußtseyn 
kommenden und daraus verschwindenden Gedankens, 
einer größeren oder geringeren Reizbarkeit der Gefühle, 
Erregung der Affekte u. s. w. In allen diesen Aus 
drücken liegt erstens ein „Größenverhältniß" und zwei 
tens eine Ruhe oder Bewegung. Die Gesetze der Ruhe 
und Bewegung der Vorstellungen, so wie die der Ab 
änderungen ihrer Stärke zu untersuchen, ist eine Auf 
gabe, welche schon durch jene einfachsten Thatsachen 
gestellt wird. Demgemäß hat Herbart mit Hülse des 
mathematischen Calculs eine Mechanik und Statistik 
des Geistes geschaffen, welche der Mechanik des Him 
mels nicht nur an die Seite zu setzen, sondern nach 
* Herbart, zuerst Professor in Göttingen, dann als 
Nachfolger Kants in Königsberg, zulezt wieder nach Göttin- 
gen gerufen.
	        
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