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Verstand, Vernunft, Gedächtniß, Phantasie, Willenskraft
u. s. w. Offenbar ist diese Antwort im Grunde so
viel wie gar keine; die Möglichkeit und das Geschehen
der Thatsache wird nicht erklärt, sondern nur wieder-
holentlich behauptet, die Frage nicht beantwortet, son
dern nur weiter geschoben. Man hat sich bekanntlich
lange und in vielen Kreisen bis auf den heutigen Tag
mit solchen Antworten genügen lassen; was aber wür
den wir von einem Physiologen denken, der uns auf
die Frage: wie und woher geschieht der Verdauungs
proceß? antwortete: durch die Verdauungskraft; und
der Blutumlauf? durch die Circulationskraft! Eine
Thatsache erklären heißt — um es so deutlich als mög
lich zu machen — nichts Anderes: als die Bedingungen
nachweisen, unter denen sie geschieht. Es ist allerdings
richtig, wenn man sagt, der Mensch denkt, weil er es
kann, das Vermögen dazu hat; es ist nur damit die
eigentliche Frage nicht gelöst. Dieß zeigt sich vollends,
wenn man näher auf die Mannigfaltigkeit der psychi-
ichen Thatsachen hinsieht. Die Erinnerung, sagt man,
geschieht durch die Gedächtnißkraft; einer hat nun eine
sehr bedeutende Fertigkeit sich vieler Zahlen, etwa aus
der Geschichte, zu erinnern, er hat also eine große, starke
Gedächtnißkrast. Aber er kann sich eines Menschen,
den er vor Jahren gesehen, nicht erinnern, auch die
Namen in der Geschichte und im Leben vergißt er leicht,
ein Gedicht auswendig zu lernen wird ihm schwer; man
sagt: er hat nur Zahlengedächtniß, wie andere wie
derum nur Lokal», Namen -, Physiognomiengedächtniß
haben. Es ist mit den andern sogenannten Kräften
nicht anders; der eine hat praktischen, der andere theo
retischen oder mathematischen oder juristischen Verstand;
das Gefühlsvermögen ist in dem einen als patriotisches,
im andern als SchönheitS- oder Freundschaftsgefühl rc.
vorwiegend. Es ist offenbar, daß der Theilung der
Kräfte kein Ende ist, und genau genommen wurde man
fast so viel Kräfte als psychische Processe finden, in
so fern fast alle von einander abweichen.
Um also die Mannigfaltigkeit der Thatsachen gegen
über dem fortdauernd in jedem Menschen lebhaften Be
wußtseyn einer entschiedenen Einheit seiner Persönlich
keit und seines Ichs in allen diesen verschiedenen Er
scheinungen und Bewegungen seines Innern zu erklären,
werden der Seele eine Unzahl von Kräften angedichtet.
Ueberhaupt spielt oft der Begriff der Kraft die Rolle
des Statisten auf der Bühne der Wissenschaft, der alle
mal da eintritt, wo man nichts mehr zu sagen hat.
Bedenkt man ferner, wie oft, ja fast immer, eine Mehr
heit dieser Kräfte zu gleicher Zeit und bei einem und
demselben psychischen Processe thätig sind — wie wenn
z. B. ein Dichter einen Vers schafft, muß der Wille
vor allem thätig seyn, und die Gedächtnißkraft, um ihm
die Worte zu bringen, die Einbildungskraft, der Ver
stand, das Gefühl, die Empfindung, ja was müßte
nicht alles mithelfen? — dann wird uns die Vielheit
der Kräfte wohl verdächtig, und wir werden vermuthen,
es möchte die Einheit, von welcher allein wir ein Be
wußtseyn haben, wohl ungestört seyn, und wir müssen
uns nach andern Erklärungsgründen für die Mannig
faltigkeit umsehen. - Je tiefer aber das Vorurtheil von den
vielen und verschiedenen Seelenvermögen nicht bloß durch
die Wissenschaft, sondern die Sprache selbst eingewur
zelt ist, desto weniger darf ich mich mit diesen Bemer
kungen zu seiner Widerlegung begnügen.
Ich erinnere deßhalb noch an Eines. Wie das Zu-
sammenwirken mehrerer K-ist-, deren harmonische und
al-ichj°i.ig° Bewegung zum Effekte ra.hselhnf. werd,
wenn man nicht noch -in- besonder- oberste Kraft wir-
der erfindet, welche alle in Schwung bringt und auch
in lgucht hätt - wozu manche da« Wille,-svermögen aus.
ersehen aber vergebens, da dieses nur wollen und nichts
als wollen kann, also weder die Einbildungs. noch die
Gedächtniß- oder -me andere Kraft in Bewegung setzen
oder hemmen, beleben oder --todten kann - wie, sage
ich das Zusammenwirken mehrerer, wird nun hinwie
derum das Ruhen und Unthätigseyn anderer Kräfte,
wahrend andere sich bewegen (oft zum größten Schaden
des Menschen, wie wenn der Verstand schweigt, wäh
rend die Leidenschaft herrscht), ebenfalls zum Räthsel;
denn eine Kraft ist durch sich selber thätig und eine
schlummernde Kraft ist eben keine. Warum also schweigt
der Verstand während der leiden,chaftlichen That. und
weiß hinterher so gar klug und scharf zu reden? Jezt
denkt der Mensch klar und sicher und sieht seinen Fehler,
weßhalb? Zuweilen — aber nicht immer, ich sage mit
Nachdruck, nur zuweilen - hat der Verstand wirklich
gesprochen, er wurde aber vom Willen nicht gehört,
und das Begehren hat gesiegt; dann sagen wir, die
Leidenschaft war stärker als der Verstand, und ein an
deres mal ist wohl in demselben Menschen, sogar in
gleichem Falle, der Verstand stärker als die Leidenschaft.
Also die Kräfte sind von verschiedenem, wechselndem
Maß; unter welchen Bedingungen wechseln und wachsen
die Kräfte der Vermögen?
Doch halt! hier geht offenbar der Weg in die ma
thematische Psychologie, in die Berechnung steigender
und fallender, streitender Kräfte bei dem psychischen
Proceß, und dieser Weg blieb bei aller früheren Psy
chologie, vollends der Vermögenölehre unbetreten; hier
heißt eS immer nur, der Mensch kann das und das,
weil er die und die Kraft hat, jenes nicht, weil ihm
diese fehlt. Hieran knüpfen sich noch tiefere Mängel
dieser Lehre, die an noch einfacheren, bekannteren That
sachen sich bloßlegen. Der Verstand soll ein Vermögen
seyn, Begriffe, die Vernunft ein Vermögen, Ideen zu
bilden und zu verknüpfen. Verstand und Vernunft sind
also Kräfte, ureigenthümliche angeborene Eigenschaften
des menschlichen Geistes; aber unsere Bauern haben
und verknüpfen keine Ideen, die Kaffern und die Meri-
kaner haben nachweislich keinen Verstand im L>inne
dieser Psychologie, welche demnach nur eine der hoch-
civilisirten Menschen ist. Oder sind jene keine Men,chen?
oder gibt es Seelen mit dreien oder vier oder sechs
Vermögen? Die gewöhnliche Antwort, z. B. bei Hegel,
ist: die Vernunft schlafe oder träume noch in diesen un
entwickelten Individuen und Völkern; aber eine ichla-
fende, träumende Vernunft ist eben keine. Man hat die
Thatsachen des höheren geistigen Lebens ,chlecht er
klärt , indem man sie einer angeborenen Vernunft zuge
wiesen, und muß deßhalb sogar gegen oder vielmehr
ohne alle Thatsachen der Seele des Indianers eine
schlafende Vernunft andichten.
Aber die Kinder, wird jeder fragen, beweisen sie
nicht — ? Ja wohl! aber das Gegentheil! Wären Ver
stand, Vernunft rc. angeborene Kräfte, so bedürfte es
der Erziehung nicht. Aber die Kräfte müssen doch ge
übt werden? Das ist nun so einer von den ererbten
falschen Begriffen, wo man einen logischen Fehler durch
einen zweiten verbessert. Was eine angeborene Kraft
ist, braucht eben nicht geübt zu werden, sonst fehlt
eben noch die Kraft; sie muß erst gewonnen wer
den, sie war also nicht angeboren. Das Licht braucht
sich an das Leuchten, der Stein an daS Fallen, das
Feuer an's Brennen nicht erst zu gewöhnen, es sind
eben Kräfte.
Doch genug! ich will nicht mit Polemik — ob
wohl die wichtigste über einen so wichtigen Gegenstand—
ermüden, und gehe daher zum wesentlichsten Punkte,
der oben bereits angedeutet ist, über. Nämlich dieses:
wäre auch gegen die Theorie von den Seelenvermögen
gar nichts mit Fug einzuwenden, sprächen weder That
sachen noch Spekulation dagegen, so bliebe sie immer
noch durchaus unzureichend, die Ereignisse des Seelen
lebens im wissenschaftlichen Sinn zu erklären. Denn
gesezt auch, die verschiedenen Thätigkeiten geschehen
durch verschiedene Kräfte, so fragen wir, nach welchen
Gesetzen wirken diese Kräfte? Seit Jahrtausenden
wußte man, daß die Körper durch eine Kraft zur Erde
fallen; denn sie fallen, also müssen sie fallen können,
eine Kraft zum Fallen haben; aber die Fallgesetze, die
Bedingungen des Falls und sein Maß, das ist eine
Entdeckung der neueren Wissenschaft, und jezt erst ist
die Rede von der Schwerkraft als einer eigenthümlichen
Erkenntniß. So auch müssen die Gesetze der geistigen
Kräfte, die Bedingungen des psychologischen Geschehens
aufgesucht und aufgezeigt werden, und das ist es, wo
nach die frühere Psychologie nicht einmal zu fragen
wußte.
Da trat eine Sonne am Himmel der Philosophie
unseres Jahrhunderts hervor, und es ward Licht, und
es sendete seine Strahlen in das ChaoS der Psychologie,
sonderte, vereinigte und belebte jegliches Ding nach
seiner Art und wirklichen Beschaffenheit. Johann Friedrich
Herbart, * der Newton der Psychologie, trat mit
der großen Frage auf nach dem Gesetz des geistigen
Lebens, und seine Antwort ist die Frucht eines Viertel-
jahrhunderts voll der angestrengtesten, tief eindringen
den Arbeit. Hat er diese vollendet? Welches menschliche
Werk wäre vollendet! Aber er hat den ersten Grund
gelegt zu dem Bau einer Wissenschaft, welche sich so
lange fort entwickeln wird und muß, als der mensch
liche Geist, ihr Gegenstand, weiter schreitet.
Aber wie? hat Herbart durch seine Spekulation
ein neues Grundwesen in der Seele aufgefunden? oder
hat seine Erfahrung ein neues Land im Reiche des
Geistes entdeckt? Nichts der Art, nichts Ungeheures,
Ungewöhnliches, sondern ein im innersten Grunde, wie
die Wahrheit selber allezeit, Einfaches.
Was nicht bloß die Psychologen, sondern jeder
irgend Denkende längst gewußt, was sich in den bild
lichen Ausdrücken der Sprache als gemeines Bewußt
seyn und allgemeinste Erfahrung kund gibt, hat er fest
gehalten, weiter geführt und zum Gegenstände wissen
schaftlicher, meist mathematischer Forschungen gemacht.
Jeder spricht und weiß innerlich von dem Unterschiede
einer starken und einer schwachen, einer mehr oder we
niger deutlichen, lebhaften Vorstellung, eines schnelleren
oder langsameren Denkens, eines in's Bewußtseyn
kommenden und daraus verschwindenden Gedankens,
einer größeren oder geringeren Reizbarkeit der Gefühle,
Erregung der Affekte u. s. w. In allen diesen Aus
drücken liegt erstens ein „Größenverhältniß" und zwei
tens eine Ruhe oder Bewegung. Die Gesetze der Ruhe
und Bewegung der Vorstellungen, so wie die der Ab
änderungen ihrer Stärke zu untersuchen, ist eine Auf
gabe, welche schon durch jene einfachsten Thatsachen
gestellt wird. Demgemäß hat Herbart mit Hülse des
mathematischen Calculs eine Mechanik und Statistik
des Geistes geschaffen, welche der Mechanik des Him
mels nicht nur an die Seite zu setzen, sondern nach
* Herbart, zuerst Professor in Göttingen, dann als
Nachfolger Kants in Königsberg, zulezt wieder nach Göttin-
gen gerufen.