Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 20
bringen und rasch in die Arme zu legen. Erstaunt, nicht
verstehend sah sie mich an. Ich aber tauchte wortlos unter
zwischen den vielen hastenden Menschen. Vermochte es
nicht über die Lippen zu bringen: wohin ich am liebsten alle
Blumen der Erde trüge, kann ich es nicht, weil ich ja nicht
einmal weih, wo das ist — da bist du ooch reicher als ich.
Aber nun sind die Kränze verkauft, die Blumenläden
geschlossen. Feuchtkalt lastet aus der großen Stadt der
graue Tag der Toten. Ich sitze nachmittags in meinem
freudlosen Hotelzimmer, und meine Gedanken gehen mit
den vielen Kranzkäufern, die heute zu den Kirchhöfen pilgern,
zu den alten mit den verwitterten Denkmalen inmitten der
Stadt, zu den neuen weit draußen, den kahlen, wo der Wind
an den jungen Bäumchen zerrt. — Die langen, langen Züge
glaub ich zu scheu — so viel länger noch als in den fern
schon scheinenden Jahren, da die Menschen untereinander
nicht so sehr Todesbringer zu sein versuchten, als gerade
durch gemeinsamen Kamps gegen den Tod Vereinte! — Sie
ziehen und ziehen, endlose Reihen schwarzer Gestalten, ver
schwimmend im dunkler und dunkler sich neigenden Tage-
Aber mir ist, als trügen sie alle ein Leuchtendes in den
Händen, in den hoch emporgehobenen Händen —• das sind
ihre eigenen armen Herzen, gebrochene Herzen, blutende
Herzen. Ein seltsamer Glanz strahlt davon aus, er loht
hinauf zum Himmel: So haben wir gelitten! So!
Wer sie zu heilen vermöchte, all die einsamen, ge
marterten Herzen auf der weiten Welt! — Denn nicht nur
hier, nein, allerwärts ziehen ja solch lange Scharen hinaus
zu den Gräbern, in allen Ländern, auf der ganzen gram-
erfüllten Erde.
Und hier in der Dämmerung sitzend, et
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Da taucht vor mir auf. aus nebligen
seelen, das ich als Kind zuerst L “
Vorüber “ ~
»er manchen Orte, wo ich das Totenfest feiern sah.
„ < Fernen Aller-
. ln Baden-Baden erlebt. —
war die Fremdenzeit, verschwunden wie bunte
Zugvögel die vielerlei Gäste, die gekommen, um sich von der
Sonne der Majestäten bestrahlen zu lassen und selbst darin
zu glänzen. Geschlossen stand die Villa Mesmer. Ein
gezogen war die gelbrote Fahne auf dem Schlosse. Die
Buden am Konversationshaus ließen ihre Rollladen zum
Winterschlaf herab, an den Hotels senkten sich die Jalousien
wie müde Augenlider. Die Allee, in der höchste und be
rühmteste Persönlichkeiten noch eben gewandelt, lag leer-
Von den sich entlaubenden Eichen sanken die Blätter lautlos
herab, lagen feucht und braun auf den Wegen. Ueber den
Lichtentaler Wiesen, wo die letzten Herbstzeitlosen blüten,
schwammen bläuliche Dunststreisen, und von den Felder«
her wehte der brenzlich scharfe Rauch des Kartoffelkrauts,,
das da verbrannt wurde. Der ganze Ort hatte plötzlich
etwas Abgestorbenes. Die Glocken läuteten Allerheiligen,
und es zog die Prozession feierlich durch die Straßen: sie
läuteten Allerseelen, und zu dem hoch gelegenen Kirchhof
wallsahrteten schwarz gekleidete Menschen, die Kränze und
Sträuße trugen. Viele von ihnen hatten rotverschwollene,
tränende Augen. Ich glaube, es war das erstemal, daß ich
mit Bewußtsein große Menschen weinen sah. Ich konnte es
zuerst nicht recht fassen. Es schien so unwahrscheinlich und
wollte gar nicht in meine Weltvorstellung passen. Tränen
waren mir bis dahin als das unvermeidliche Los der
Kinder erschienen, weil sie sich den Erwachsenen eben nie
recht verständlich machen konnten und es da immer Miß
verständnisse geben mußte. Aber daß diese Großen, Starken,
deren Leben ich mir so herrlich frei gedacht, auch weinten!
Gab es denn noch Stärkeres als sie selbst? Und "welch ge
heimnisvollen Kummer bürdete es ihnen auf? Würde er
auch mich dereinst treffen? — Es war, als habe mich die
dunkle Schwinge eines aus dem §>erbstnebel gespenstisch auf
tauchenden Vogels plötzlich gestreift. (Fortsetzung folgt.) ,