Full text: Zeitungsausschnitte über Wilhelm Grimm

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z6 
— 
Nr. 51. 19. Tezentber Hovf'sche Verlagsbuchdruckerei Gebr. Jenne, G. m. b. H.. Spandau. 
1999. 
v 
Der Märchen-Grimm. 
Zum 50. Todestage Wilhelm Grimms (16. Dezember). 
Von Ernst Kr 
„Es war einmal..." 
So ging's doch fast immer an? 
Dann saßen wir Kinder nach getaner HauS- oder 
Schularbeit um „Großchen" geschart, die so wunderbar zu 
fabulieren wußte, und später, als sie nicht mehr da war, 
um „Muttchen", auf deren Gemüt und Geist sich die 
gleiche Gabe vererbt hatte, mit gespannten Sinnen, mit 
klopfenden .Herzen. 
„Es war einmal. . ." 
Daun öffneten sich die Tore der Märchen- und 
Sagenwelt, und jedes Auge hing voll Andacht an dem 
Munde der Erzählerin; jedes Ohr lauschte, lauschte — 
mochte draußen sommerabeudliche Pracht durch Flur und 
Garten ziehen, mochten Frühlings- oder Herbststürme sausen, 
mochte der Winter Flocken streuen oder Eisblumen auf 
die Fensterscheiben zaubern. Ach, wie wunderschön war 
das doch! Jeder, der von solch einem Zufallsglück sagen 
kann, wird selbst bis in die Jahre des Greisenalters jene 
Erinnerung bewahren ; ja sie wird ihm nur immer goldener 
hervortauchen, je tiefer seines Lebens Sonne niedersteigt. 
Wenn daztimal schon der Knips-Apparat erfunden oder 
gar modischer Sport gewesen wäre, vor dessen Aufdring 
lichkeit wir uns heute oft geängstigt zu verbergen suchen 
müßen, wahrlich, dann würden unzählige Momeutbilder 
wohl immer die gleiche Szenerie aufzuzeigen haben, mtd 
wir besäßet: neben den unerschöpflichen Goldschätzen an 
deutscher Volkspoesie, auch noch die unmittelbaren, jedem 
Auge zur Prüfungsschau überlieferten Zeugnisie von der 
Welt des seligsten Kinderglaubens, einer Welt, die im 
Zeitalter der elektrischen Zauberkräfte ioic ernster sozialer 
Kämpfe schier selber schon ins Schattenreich des Märchens 
und der Sage versunken erscheint. 
Diese beiden aber sind, was sie immer waren, immer 
bleiben werden: das unveräußerliche Eigentum des ewig 
sich verjüngenden, urschöpferifchen VolkügeisteS. Nicht auf 
ben sonnigen Höhen eines wohllebigen Reichtums, sondern 
bei den Hütten der Armut sprießt die blaue Wunder 
blume auf. Wer ausgeht, um sie zu suchen, wird sie 
allda erblühen sehen in aller Keuschheit und Naturfrische, 
die ein Treibhausgewächs nimmer haben kann. Viele 
waren schon hinausgezogen. Vor allen gelang es den 
deutschen Romantikern, bis an dis verschütteten Quellen 
und verwilderten Standorte altgermanischer Poesie vor 
zudringen, um so manche Wunderschätze zu heben. Der 
Mann aber, dem es bestimmt sein sollte, sie von allen 
Schlacken und Stattbflecken ztt säubern uttd sie aufs 
e o w 8! i (Berlin). 
(Nachdruck verboten.) 
neue ins Volksgentüt zu versenken, der mußte erst noch 
kommen. 
Und er kam! Oder genauer attsgedrückt: von zwei 
Männern zugleich floß uns jene Segnung zu. Sie heißen: 
Jakob und W i l h e l m Grimm. „Jeder in Deutsch 
land weiß von den Brüdern Grimm. Die Kinder wachsen 
in der Liebe zu ihnen auf. Jeder ehrt ihren Namen. 
Und diese Verehrung des Volkes erbt sich in den zu 
wachsenden Geschlechtern fort. Für ihr Denkmal, das 
nun in Hanau steht, steuerten alle Deutschen bei, auch aus 
fremden Erdteilen. Kinder und arme Leute brachten oft 
nur wenige Pfennige." So hat einst Herman Grimm, 
der Sohn Wilhelms geschrieben. Und wir können gar 
nicht mehr anders, als von beiden sprechen. 
In der Geschichte des deutschen Gelehrtentums bilden 
die Gebrüder Grimm einen Ausnahmefall, der noch keine 
Wiederholung erfahren hat. Ihre geistige Entwicklung, 
ihr gleicher Studiengang, ihre gleichgeartete Hinneigung 
zu einer vollkommenen, sich gegenseitig ergänzenden und 
stützenden Erschließung germanischer Geistes- und Gemüts 
kultur, ihr beständiges Beieinandersein, ihr wechselseitiges 
Einwirken des einen auf den andern, bis der Tod sie 
trennte: das alles will in diese Betrachtung verwoben sein. 
In Hanau sind die Grimms geboren, Jakob am 
4. Januar 1785, Wilhelm am 24. Februar 1766. Im 
Hessenlande — zu Kassel und Marburg — haben sie ihre 
Gymnasial- wie Universitätszeit verbracht; ja noch weit 
darüber hinaus. Denn an der Kasseler Landesbibliothek 
wirkten beide jahrzehntelang als Bibliothekare einträchtig 
nebeneinander. Und wenn auch in diese arbeitgesegneten 
Jahre verschiedene Reisen Jakobs nach Paris fielen, so 
waren es doch nur Trennungen auf wenige Monate, ob 
gleich sie doch schwer genug empfunden wttrden. Nämlich 
in einem Briefe Jakobs aus Paris votn 12. Juli 1805 
steht folgender Erguß: „denn, lieber Wilhelm, wir wollen 
utts einmal nie trennen, und gesetzt, man wollte einen 
anderswohin tun, so mußte der andre gleich aufsagen. 
Wir sind nun diese Gemeinschaft so gewöhnt, daß mich 
schon das Vereitrzeln zum Tode betrüben könnte." Nun, 
ein gütiges Geschick fügte eS, daß sie stets beisammen 
bleiben durften, woran selbst Wilhelms Verheiratung 
nichts zu ändern vermochte. Seit 1830 lehrten beide an 
der Göttinger Universität. 1837 wurden sie mit fünf 
andern Professoren wegen des Einspruchs gegen die Auf 
hebung der hannoverschen Verfassung abgesetzt. Es war 
derselbe König, der diese Gelehrten „seine sieben Teufel"
	        
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