© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z4
11. Mai. DEUTSCHE LITERATURZEITUNG 1912. Nr. 19.
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Allgemeinwissenschaftliches; Gelehrten-,
Schrift-, Buch- und Bibliothekswesen.
Referate.
Briefe der Brüder Grimm an Paul Wigand.
Veröffentlicht und erläutert von E. Stengel [ord.
Prof. f. roman. Philol. an der Univ. Greifswald].
Private und amtliche Beziehungen der
Brüder Grimm zu Hessen. III. Bd. Marburg,
N. G. Eiwert, 1910. VII u. 434 S. 8°. M. 6.
Paul \Y«gand ist mit den Brüdern Grimm zu
sammen in Kassel zur Schule gegangen, in Mar
burg hat er mit ihnen zusammen studiert, und
wenn ihn dann auch seine Laufbahn im Justiz-
dienst, die ihn von Kassel nach Höxter und
Wetzlar führte, äusserlich von den Freunden
trennte, so hielten ihn doch die gemeinsamen
Jugendbeziehungen, vor allem seine wissenschaft
lichen Neigungen und Arbeiten in dauerndem
Zusammenhang mit ihnen. Jacob Grimm schreibt
ihm einmal (am 7. Juli 1825), indem er ihn an
ihre Schuljahre erinnert: »wir dachten mit keinem
Gedanken an das, was wir nun treiben, aber es
war uns doch schon damahls vor den Mitschülern
eine heimliche Rührigkeit zu eigen, die über das
hinausstrebte, was wir für das gewöhnliche Leben
lernen sollten«. Diese Rührigkeit verlor Wigand
auch in den Amtsgeschäften nicht. Alle seine
Mussestuuden widmete er dem Studium der Ge
schichte, zumal um die Aufhellung der alten
Rechts- und Verfassungszustände Westfalens war
es ihm zu tun. Er war einer der ersten, der
auf die Wichtigkeit der seit Jahren verwahrlosten
Urkundenscbätze aufmerksam machte; durch un
ermüdliches Sammeln und Ordnen dieser Quellen,
als Leiter von Archiven, als Herausgeber von Zeit
schriften erwarb er sich hervorragende Verdienste.
Unter seinen zahlreichen Beiträgen zu Geschichte
und Rechtsaltertümern wurde wohl sein Buch
über das Femgericht Westfalens (1825) am be
kanntesten. Er stand nicht entfernt auf der
wissenschaftlichen Höhe seiner grossen Freunde.
Aber diese nahmen für manche ihrer Zwecke
seine kenntnisreiche, stets bereite Unterstützung
gern und dankbar in Anspruch. Er sammelte
für sie Märchen und Volksüberlieferungen, zumal
für Jacob Rechtsgebräuche und Weistümer. Ein
reicher Briefwechsel bezeugt diese treue lebens
lange Gemeinschaft. Die frühesten Briefe richtet
Jacob im Sommer 1802 als lustiger Student, der
juristische Vorlesungen hört, daneben aber eifrig
die neuste schöne Literatur verschlingt, manch
mal auch »ganz exemplarisch ins Zeichnen ver
narrt« ist, an den mit Wilhelm noch für ein
weiteres Jahr auf dem Gymnasium zurück
gebliebenen Freund. In dem letzten vom 21. De
zember 1859 meldet er ihm in kurzen, traurigen
r
u
Worten, dass sein bester Bruder Wilhelm dahin
gegangen sei. Niemand wird erwarten, dass sich
aus diesen 222 Briefen unbekannte Züge der
Schreibenden enthüllen. Aber niemand wird sie
lesen, ohne von neuem den unvergänglichen
Zauber zu verspüren, der allem anhaftet, was
von diesen Menschen ausgegangen ist. Gern
treten wir an der Hand dieser Briefe einmal
wieder in die Studierzimmer ein, wo die Beiden
unermüdlich schaffen und schreiben, wo aber
nicht nur der Fleiss, sondern der Genius waltet,
wo die stille Leidenschaft zur Arbeit, die reine
Empfänglichkeit für Schönheit, die tiefe Liebe
zum Vaterlande wärmende Glut verbreiten. Glück
im höchsten Sinn war dort zu Hause, denn seine
Quelle war nichts Äufserliches, am wenigsten
Stolz auf Erfolg und errungenen Ruhm, sondern
das innere Gleichgewicht der Seele. Am schön
sten spricht sich das in unserer Sammlung viel
leicht in dem Eingang des Briefes aus, den Jacob
am 29. Mai 1813 an Wigand richtete; er möge
zum Schluss hier eine Stelle finden: »Wir haben,
wie Wandrer Regen, Sturm, Sonnenschein unter
einander erlebt, der Gedanke an das eine hat
immer das andre gemässigt, und wenn auch die
Wolken alle Berge verdeckt, ist uns doch die
Gewissheit noch geblieben, dass noch höher die
Sonne leuchte; nur wenn sie aufgehe, das war
in Gottes Hand gelegt. Dazwischen haben wir,
sobald es ging, fortgearbeitet; es ist im äusseren
Leben nichts besseres als solch ein fester Beruf,
wie ich unser Arbeiten betrachte, und ohne ihn
würde Freud und Leid uns zu Boden werfen,
wie wir beides, Sonnenschein und Frost, ohne
Schutz nicht vertragen, sondern darunter ohne
Bewegung hinsterben. Ich kann recht viel Müh
und Arbeit an etwas wenden und das erworbene
dann doch sehr gering schätzen, ja wenns nöthig
wäre verachten.«
Rostock. R. Hübner.
Notizen und Mitteilungen.
Notizen.
Die marcianische Bibliothek in Venedig hat
durch letztwillige Zuwendung die 25000 Bände um
fassende Sammlung des jüngst verstorbenen Prof. f.
Sanskrit u. vergl. Gesch. d. klass. Sprachen an der
Univ. Padua Emilio Teza erhalten. Die Bibliothek ent
hält bisher unveröffentlichte orientalische Manuskripte
und sehr seltene Inkunabeln, eine Bibelsammlung und
eine umfangreiche Privatkorrespondenz mit Carducci,
Rossctti, Renan, Barthelemy St. Hilaire, Louis Lucien
Bonaparte, Gaston Paris u. a.
Gesellschaften und Vereine.
Sitzungsberichte d. Kgl.Preuss. Akad. d. Wissenschaften.
11. März. Gesamtsitzung. Vors. Sekr.: Hr. Auwers.
1. Hr. Waldeyer las: Über einen Fall von Mikro
cephalie. (Abh.) Im Anschlüsse an den im vorigen Jahre
beschriebenen Fall von Mikrocephalie bei einem 16jäh-