© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z4
aus : Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berlin,
Nr. 32, 1871, Feh.4 , S. 1
Jr j/r
Politischer Tagesbericht.
Berlins den 6. Februar 1871.
Der Mvfeffor Gervinus hat unlängst zu
einer nMn Ausgabe seiner „Geschichte der
'deutschen Dichtung" ein Vorwort veröffentlicht,
in. Welchem er mit jener nur einem deutschen
Professor möglichen Gewißheit über ungewiffe
.-Dinge redet, nämlich darüber, wie die Gebrüder
Grimm und Dahlmann, wenn sie das Jahr
1866 erlebt hätten, über daffelbe denken und
urtheilen würden.
Da Hr. Gervinus für seine Person ein
geschworner Feind der Neugestaltung Deutsch
lands ist, so versteht sich von selbst, daß die
Verstorbenen, deren Schalten er beschwört, diese
Anschauung des lebenden Gervinus theilen
müffen.
Wie Hr. Gervinus zu dieser — wenn der
Ausdruck gestattet ist — rückwärts gewandten
Prophetie kommt? Eine schwer zu beant-
, wortende Frage; die Muthmaßung wird ge
stattet sein, es habe ihn das Fiasco, welches
sein eigentliches, in die Zukunft blickendes
Prophetenthum bei der Ronge'schen Bewegung
erlebt hat, zu dem Entschluß geführt, nur noch
als rückwärtiger Prophet aufzutreten.
Indessen auch hiermit hat der Profeffor viel
Unglück gehabt; namentlich hat er von dem
Sohne Wilhelm Grimm's, also von sehr beru
fener Stelle, eine Abfertigung erhalten, welche
schlagend genannt werden darf.
Im Allgemeinen wird es stets ein ver
fehltes Bemühen sein, über solche politische
Fragen, die in untrennbarem Zusammenhange
mit der Geschichte stehen, das Urtheil von
Männern extrahiren zu wollen, welche die Ge
schichte selbst nicht mehr erlebt haben. Fragen
solcher Art — das Ausscheiden Oesterreichs
aus Deutschland, das Verschwinden einzelner
deutscher Souverainetäten — sind es aber, über
welche Hr. Gervinus die Todten nach seinem
Belieben reden läßt. Und er könnte dies mit
einiger Sicherheit selbst dann nicht, wenn die
drei in Rede stehenden Männer sich unzweideu
tig gegen die Trennung von Oesterreich und
gegen jede Absorption einer deutschen Souve-
rainetät ausgesprochen hätten; selbst ein solcher
Ausspruch würde keine Garantie dafür bieten,
daß derselbe wiederholt wäre, nachdem der
Gang der Geschichte das Ausscheiden Oester
reichs und die Annexionen zuni Heile des Ganzen
zur Nothwendigkeit erhoben.
Aber so günstig steht die Sache für Hrn.
Gervinus nicht; denn was den Einen.der
cttirten Todten, was Jacob Grimm betrifft, so
hat derselbe notorischermaßen Aussprüche ge
than, die mit der Stellung, welche Hr. Ger
vinus ihm zu einem Theile jener Fragen an
dichten will, in starkem Widersprüche stehen.
Und damit man in dem Gebrauche des Wortes
„andichten" kein Uebermaß argwöhne, bemerken
wir, daß diese Aussprüche, die wir jetzt citiren,
enthalten sind in der an Hrn. Gervinus selbst
gerichteten Widmung der Grimm'schen Ge
schichte der deutschen Sprache. Wir lesen dort:
„Solcher Gesinnung ist im höchsten Grade
einerlei, ob Getcn und Gothen jemals gewesen
seien, ob Luther in Deutschland eine feste Macht
des Glaubens angefacht oder vor hundert
Jahren Friedrich der Große Preußen er
hoben habe, das sie mit allen Mitteln er
niedrigen möchten, da doch unserer Stärke
Hoffnung auf ihm rubl.
Gleichviel, ob sie fortan Deutsche heißen oder
Polen und Franzosen, gelüstet diese Selbstsüchtigen
nach dem bodenlosen Meer einer Allgemeinheit, das
alle Länder überflnthen soll.
Jetzt haben wir das Politische im Ueberschwank,
und während von des Volkes Freiheit, die nichts
mehr hindern kann, die Vögel auf dem Dach
zwitschern, seiner heiß ersehnten, uns allein
Macht verleihenden Einheit kaum den
Schatten. O, daß sie bald nahe und nim^
mer von uns weiche.
Lothringen, Elsaß, die Schweiz. Belgien
und Holland, sind unserm Reich, wir sagen
noch nicht unwiderbringlich entfremdet.
Es mag, was unbefugte Theilung der Fürsten,
dre ihre Leute gleich fahrender Habe zu vererben
wähnten, zersplittert, wieder verwachsen, und ans
vier Stucken ein neues Thüringen, aus zwei
Hälften ein starkes Hessen erblühen, jeder Stamm
aber, dessen Ehre die Geschichte uns vor-
hält, dem großen Deutschland freudige
Opfer bringen."
Was aus diesen Worten hervorgeht, ist
dieses: Jakob Grimm erkennt Preußens Beruf
cm, denn er sagt: „Auf ihm ruht unserer
Starke Hoffnung"; .Jakob Grimm will die
„Macht verleihende Einheit"; Jakob Grimm
will den Rückerwerb von Elsaß und Lothringen;
^akob Grimm ist nicht der Meinung, daß die
damals (1848) bestehenden Souverainetäten für
alle Zeiten bleiben müssen, und von allen
Stämmen fordert er, daß sie „dem großen
Deutschland freudige Opfer bringen."
. Wenn wir an Anmaßung mit Hrn. Ger
vinus wetteifern wollten, so würden wir sofort
behaupten, durch dieses Citat bewiesen zu ha-
ben, daß Jakob Grimm mit der Neugestaltung
Deutschlands zweifellos einverstanden sein
teurcc: wir gehen nicht so weit; aber so viel
rst erwiesen, daß Hr. Gervinus kein Recht hat,
ferner Beurtheilung der Dinge diesen großen
Todten zu annectiren.