© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z4
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HUM Segen; iUtf der andem Seite über haben wir uns, mit einem Eifolge
welchen selbst unsere Feinde nicht läugnen, bestrebt durch die Reichkgesetz-
gebung die Provinzen, die Kreise, die Gemeinden, die Körperschaften, die
Einzelnen von allen jene» centralistisch-polizeilichen Bevormundungen und
Beschränkungen zu befteien welche den Territorialstaaten auf dem religiösen,
politischen, bürgerlichen und wirthschaftlichen Gebiet eigenthümlich waren,
so daß in der That das Bundesgesetzblatt von 1867 bis 1870 dereinst die
Magna Charta der deutschen Nation zu werden verdiente.
Neben dem Centralisiren der Wehrkraft tritt überall da? Deeentralisiren
und Localisiren der Verwaltung auf das allerentschiedenste in den Vorder
grund, namentlich auch in Preußen, wo die Neigung zur Selbstverwaltung
von allen Parteien getheilt wird. Die neuen Territorien suchten sich nach ihrer
Einverleibung in den Großstaat ihre provineielle Autonomie in Verfassung
und V erwaltung nach Kräften zu wahren. Denjenigen unter ihnen welche nach
einheitlichem Plane durch hierzu geeinigte und geeignete nationalgesinnte
Vertreter diesem Ziele zustrebten, ist dessen Erreichung gelungen. Die
andern Provinzen wollen an selbständiger Unabhängigkeit von bureaukra-
tischer Centralisirung hinter ihren Schwestern nicht zurückbleiben. Die Bewe
gung wird immer kräftiger und tiefer; sie bemächtigt sich auch des Kreises
und der Gemeinde, und der erste Beamte des deutschen Reichs und des
preußischen Staates hat zu ihren Gunsten sein Wort verpfändet. Aber
das alles verdammt Hr. Gervinus, oder er ignorirt e8. Denn die Dinge
find nun einmal nicht den Weg gegangen welchen er ihnen prophetisch vor»
gezeichnet, und ihm fehlt, um abermals mit SiliuS JtalieuS zu sprechen,
etwas was in der Politik ebenfalls nöthig ist —»des Herzens heiterer
Gleichmuth."
Berlin, 19 Jan. 1871. Dr. Karl Braun (Wiesbaden).
II.
* GervinuS zwingt mich durch seine „Nachschrift," in Nr. 17 dieses
Blattes, in einer Sache mich aussprechen zu müssen in der ich, so sehr von
Vielen und gewichtigen Seilen die Aufforderung zu reden bisher an mich
herantrat, zu schweigen entschlossen war. Der Versuch Jacob und Wil-
Helm Grimm, die seit Jahren begraben sind, als Gewährsmänner aller-
neuester Meinung wieder wach zu rufen, erschien mir in solchem Grad ein
unmöglicher Beginnen, daß ich mir ersparen zu dürfen glaubte dem alten
Freunde des Hauses öffentlich gegenüber zu treten.
Nun aber liefert Gervinus zu seinem Vorwort eine authentische Er
klärung, und wendet sich direct an uns, als hätten wir (d. h. ich und
meine Geschwister) ihn dazu herausgefordert. Die „National-Zeitung"
brachte eine Besprechung der Geschichte der deutschen Dichtung aus der
Feder des Dr. Braun (Wiesbaden), welcher darauf hinwies wie sehr Ger
vinus, dadurch daß er die alten Freunde denen der Tod selbst den Mund
verschlossen hatte als Vertreter einer ihr Andenken beeinträchtigenden
politischen Meinung aufrief, deren hinterlaffene nächste Angehörige ver
letzt habe. Diese Folgerung war eine ganz natürliche, und jeder, auch
wer von diesen Angehörigen nicht mehr wußte als daß sie vorhanden seien,
durfte und mußte sie ziehen. Gervinus, der doch wohl hätte wissen können
daß, wenn es mir nothwendig geschienen hätte daß gesprochen würde, ich
selbst mit meinem eigenen Wort eingetreten wäre, nimmt in künstlich rhe
torischer Wendung, „als wolle und könne er es nicht glauben," trotzdem
an: wir hätten Dr. Braun zu diesen Anmerkungen veranlaßt, und, indem
er ihn selbst als gar nicht in Betracht kommend zur Seite schiebt, wendet
er sich an uns.
Was Gervinus gibt, soll, wie gesagt, als eine authentische Erklärung
seines Vorwortes gelten. Gäbe er nichts weiter in der That, so würde
ich, wie ich früher gethan, die Dinge auf sich beruhen laffen. Allein
Gervinus bringt etwas ganz neues. In der Vorrede waren beide Brüder
genannt: jetzt dagegen finde ich Wilhelm auLgeschloffen. Seine „reinliche
Seele" soll die Fragen um die es sich hier handelt gar nicht berührt haben.
Wie wäre das zu verstehen? Mein Vater würde sich gescheut haben heute
deutlich zu erklären wie er sich zu den jüngsten Ereignissen und zu den
Gegnern der durch Preußens Vorangehen errungenen deutschen Einheit
stellte? Allerdings überließ Wilhelm in politischen Dingen das Wort
gern seinem älteren Bruder, und es entsprach seiner Neigung für sein
Theil mehr zurücktreten zu dürfen. Er wich sogar — ich darf es ausspre
chen ohne Mißverständniß zu besorgen — darin von Jacob ab daß er im
Abbruche des Alten, aus dem das Neue sich gestalten sollte, behutsamer
war als dieser, der am liebsten den ganzen Bau zusammengeschüttelt hätte,
im festen Glauben die Steine müßten sich au« eigener Kraft beinahe zum
neuen zusammenfügen. Jacob selbst hat in seiner Denkrede auf Wilhelm
diese Charakterverschiedenheit mit so schönen Worten hervorgehoben. Und
deßhalb sollte Wilhelm heute kein entscheidendes Urtheil zu geben haben?
Gervinus war ja in Berlin als mein Vater starb. Er erinnert sich viel
leicht mit welchen Worten er aus der Welt gieng. Im heftigsten Fieber
liegend und in seinen Phantasien hastig vom einen zum andern eilend,
würd m endlich seine Gedanken ruhig und geordnet. Als habe er einen
weiten Zuhörerkreis um sich, begann er in bedächtiger Klarheit die Lage
der öffentlichen Verhältniffe zu erörtern. Es war als wolle er den Beweis
liefern daß der Gedanke an das Vaterland den Sieg davontrage über die
Macht der Krankheit. Er sprach lange. Er hob den sich überall zeigende»
Fortschritt hervor, und endete mit dem Hinweis auf den damals in die
Regierung eingetretenen Prinz-Regenten, auf deffen Wirken er die größten
Hoffnungenjsetzte. Wir standen alle und hörten; es war nicht als ob die
letzten Athemzüge eines Mannes dazu verbraucht würden so zu reden.
Das geschah vor zwölf Jahren. Wer allerdings kann wiffen wie
WilhelmzGrimm heute gedacht hätte? Möge Gervinus ihn stellen wo»
hin er will — meinen Gedanken nach würde mein Vater mit freudigem
Herzen den Ereigniffen gefolgt fein welche sich heute vollziehen, und für
die fein einer Sohn mit im Felde steht. Gervinus redet vom „trübe»
Wasser der Politik." Wir kennen heute nur das einzige Gefühl mit dem
jeder von unsjsich als Träger deffen mitempfindet was geschieht, geschehe»
ist und geschehen wird. Jeder thut ruhig das seinige, weil er weiß daß
auf ihn gerechnet werde. Die Zuversicht mit welcher der beste Theil un
seres Volkes heute in Frankreich steht fehlt uns Zurückgebliebenen nichts
und wer diesem Gefühl gegenüber von Politik und Partei redet, der kennt
das Volk nicht.
Gervinus, indem er sich nun auf Jacob Grimm allein beruft, läßt
wiederum jetzt deffen heutige eventuelle Meinung mehr zurücktreten, um
desto fester darauf zu bestehen: Jacob Grimm sei ein geborner Particula-
rist und zur Zeit seines Todes (1863) Föderalist gewesen. Seine heutige
Stellung soll sich daraus — es werden einige seiner Aeußerungen aus den
letzten Lebensjahren angeführt — dann von selbst ergeben.
Weil Jakob Grimm, wie sein Bruder, in unwandelbarer Anhäng
lichkeit seine Heimath Heffen liebte, müßte er deßhalb das Ende der dort
eingerüsteten jammervollen Wirthschaft bedauert und den natürliche»
Fortschritt des Landes seit seiner neuen Verbindung verkannt haben?
Weil er, ehe Schleswig-Holstein für uns wiedergewonnen, der Druck Oester
reichs siegreich abgeworfen und der verbrecherische Uebermuth Frankreichs
bestraft war, mit Sorge und Mißtrauen in die nächste Zukunft sah, wie
wir alle thaten; weil er eine Uebergangspolitik verwünschte, deren Z-ele
damals niemand anders als im ungünstigsten Sinn aufzufassen im Stande
war, deßhalb sollte er heute dem lebendigen Schaffen der Männer ent
gegen gewesen sein denen wir die deutsche Einheit und das Kaiserthum
verdanken? Mitten im Frühlingssturme der neuerwachten, neugeeinte»
deutschen Kraft sollte Jacob Grimm, abseits unter einer windstillen Felsen
ecke stehend, nichts von seinem Wehen empfunden und mit schwerer Be
ängstigung die Einheit des Vaterlandes nahen und sich gestalten gesehen
haben? Nur für unversöhnlichen Tadel hätten seine Lippen da Worte
gehabt? Sein Bild steht zu vielen anders vor der Seele!
Ich war im letzten Lebensjahrzehnt Jacob Grimms wohl so weit
selber ins Leben hineingewachsen, und stand ihm nahe genug, um meine
eigenen Erfahrungen denen seiner älteren Freunde nun zur Seite stelle»
zu dürfen. Jacob Grimm ist niemals Föderalist gewesen, ja er würde
die Meinung welche Gervinus ihm heute zuzuweisen versucht, gar nicht
verstanden haben. Er kannte solche Clauseln nicht, er hatte stets im ein
fachsten Sinn das Allgemeine im Auge. Particularist war er, wie wir
alle heute es sind und hoffentlich bleiben werden. Ich selbst, der ich nur
als Kind wenige Jahre in meinem Geburtslands lebte, bin so stolz auf
diesen Ursprung, daß ich ihn mit keinem andern vertauschen möchte. Nichts
klingt mir so vertraut und schlägt so an mein Herz als die hessische Sprache.
Das Gefühl mit dem die Brüder Grimm mit allen Wurzeln ihres Daseins im
hessischen Boden hiengen, kennt jeder der überhaupt von ihnen weiß.
Möge in allen Heffen niemals etwas von dieser Liebe verloren gehen, und
die große Vereinigung, die sich heute vollzogen hat, Heffen und all de»
übrigen Landschaften Deutschlands zu gute kommen, damit niemals, wie
in Frankreich, ein einzelner Punkt in erhöhtem Maße das Vaterland zu
repräsentiren scheine, und das Uebrige und das Ganze keinen Schaden
leide. So empfinden wir heute doch alle: warum sollte Jacob Grimm
anders empfunden haben? Obgleich er niemals in seiner Liebe zu Heffen
nachließ, war er völlig in seiner neuen Heimath festgewachsen. Auf seinem
Leichensteine, bestimmte er, sollte nur das Jahr und der Tag seiner Ge
burt, nicht aber stehen wo er geboren sei. Das kann doch nur bedeuten
daß ein deutscher Boden als Geburts- und Grabstätte für ihn gelten solle.
Er erwartete von Preußen den Ausgang zur endlichen Befreiung und
Vereinigung von Deutschland, ohne für die Wege dahin Bedingungen
vorzuschreiben. Es schien viel verloren zu der Zeit als er starb, und wem-
Hoffnung war es werde der Verlust so bald wieder eingebracht werden.
Niemals aber hat Jacob Grimm Zweifel gehegt daß es geschehen müsse,
und auf solchem Weg geschehen müsse. Was hätte ihm am Föderalismus
heute und am künstlichen Aufbau eines Bundesstaats gelegen, deffen