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DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
Trostlossein ihm Trost. Bis dahin erfrischt sich die Seele an
dem Währen des Leids. Bis dahin geschieht ihr die Erneue
rung in seiner Erhaltung. Bis dahin sammelt sie neue Kraft
aus der Erinnrung ihrer alten Tage. Nicht vergangnes Glück,
nur vergangne Schmerzen sind die Seligkeit der Seele in jeder
Gegenwart. Sie erneuert sich in sich selbst. Und die Kunst
schmiedet ihr diesen Ring des Lebens.
Sie scheint wirklich aufs vollkommenste das Kreuz zu
ersetzen. Wozu sollte die Seele noch seiner bedürfen, wenn
in sich selber sie Erhaltung und Erneuerung findet? Ja in sich
selber trägt sie den Reif des Lebens, den die Kunst ihr rundete,
aber sie trägt ihn als metallnes hartes Band um ihr Herz. Das
Band muß zerspringen, daß das weiche Herz erst wieder
schlagen lerne im Gleichtakt aller Herzen. Das Kreuz, das zu
tragen die Kunst die Menschen lehrte, war nur eines jeden sein
eigenes Kreuz. Auch wer nicht Menschenhaß sich aus der
Fülle der Liebe trank, auch den lehrte sie doch nur mit er
stauntem Blick die tausend Quellen neben dem Durstenden in
der Wüste zu gewahren. Sie ließ ihn nicht die tausend mit ihm
in der gleichen Wüste Durstenden erblicken. Sie lehrte ihn
nicht die Einheit allen Kreuzes. Die erfährt die einsame Seele
aus Heidenstamm, der die letzte Einheit der Wir nicht im
Blute kreist, nur angesichts des Kreuzes auf Golgatha. Erst
unter diesem Kreuz erkennt sie sich eins mit allen Seelen. Da
bricht der künstliche Reif um ihr Herz, das da allzeit lag in
großen Schmerzen; denn allzeit saß ihm etwas Liebes ver
wunschen im Brunnen.. Und indem so an die Stelle des eignen
Schmerzes und an die Stelle jeden eignen Schmerzes der eine
Schmerz ohne gleichen tritt, schlingt sich das Band nun von
Seele zu Seele. Die Seele, die unterm Kreuz stand und an dem
ewigen Schmerz ihre ewige Erquickung gewann, hat es ver
lernt, den Kreislauf von Erhaltung und Erneuerung allein in
der eignen Brust zu suchen, wo ihn die Kunst pulsen macht.
Im eignen Innern leidet sie nun den Kreislauf ewigen Leids
und ewiger Freude mit, den das Herz antreibt, das am Kreuz
für viele und für sie auch litt.