336 DRITTER TEIL: EINLEITUNG
daß vielleicht, indem er zu versuchen meint, er selber schon
versucht wird. Oder beruhte etwa jene Möglichkeit, Gott zu
versuchen, auf der Tatsache, daß Gott den Menschen versucht?
Und wenn anders in jener Möglichkeit — wohlgemerkt: Mög
lichkeit — sich die Freiheit bekundet, die der Mensch dem
Erlösergott gegenüber wenigstens, wenn auch nicht dem
Schöpfer und Offenbarer gegenüber hat — denn zwar ge
schaffen wird er ohne seinen Willen, und die Offenbarung wird
ihm ohne sein Verdienst, aber erlösen will ihn Gott »nicht
ohne ihn« —: wenn anders also sich diese Freiheit des Gebets
in der Möglichkeit, Gott zu versuchen, bekundet, wäre dann
also etwa die Versuchung des Menschen durch Gott die not
wendige Voraussetzung dieser seiner Freiheit?
So ist es. Eine rabbinische Legende fabuliert von einem
Fluß in fernem Lande, der so fromm sei, daß er am Sabbat
sein Fließen einstelle. Wenn statt des Mains dieser Fluß durch
Frankfurt flösse — ohne Zweifel würde die ganze Judenschaft
dort den Sabbat streng halten. Aber Gott tut solche Zeichen
nicht. Es graut ihm offenbar vor dem unausbleiblichen Erfolg:
daß dann grade die Unfreisten, die Ängstlichen und Kümmer
lichen, die »Frömmsten« sein würden. Und Gott will offenbar
nur die Freien zu den Seinen. Um so zwischen den Freien
und den Knechtseelen zu scheiden, genügt aber kaum die bloße
Unsichtbarkeit seines Waltens; denn die Ängstlichen sind
ängstlich genug, im Zweifel sich lieber auf die Seite zu
schlagen, zu der zu halten »in jedem Falle« nicht schadet und
möglicherweise — mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit — sogar
nützt. Gott muß also, um die Geister zu scheiden, nicht bloß
nicht nützen, sondern gradezu schaden. Und so bleibt ihm gar
nichts übrig: er muß den Menschen versuchen; er muß ihm
nicht bloß sein Walten verbergen, nein er muß ihn darüber
täuschen; er muß es dem Menschen schwer, ja unmöglich
machen, es zu sehen, auf daß dieser Gelegenheit habe, ihm
wahrhaft, also in Freiheit, zu glauben und zu vertrauen. Und
umgekehrt muß auch der Mensch mit dieser Möglichkeit, daß
Gott ihn bloß »versuche«, rechnen, damit er immerhin einen