VOM WUNDER
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Und wie wir bisher sahen, daß die Aufklärung in ihrem
Kampf gegen die jeweils vergangene Epoche unbeabsichtigt
der jeweils heraufziehenden Waffen lieferte, so auch jetzt.
Denn es ist eine neue Epoche, die um 1800 heraufzieht
Die Aufklärung war diesmal historische Aufklärung
gewesen. Als historische Kritik hatte sie die Augenzeugen
schaft des Wunders und damit dieses selbst als eine historische
Tatsache unglaubwürdig gemacht. Nicht bloß dem vermittel
ten Glauben der sichtbaren Kirche, sondern auch dem un
mittelbar auf die Schrift als die letzte Quelle zurückgehenden
Glauben Luthers war der Gegenstand wankend geworden.
Aber schon hatte die neue pietistische Mystik seit dem Aus
gang des siebzehnten Jahrhunderts einen neuen, von der ge
schichtlichen Objektivität des Wunders so gut wie unabhän
gigen Glaubensbegriff vorbereitet. Und nun kam diesem neuen
Glauben unerwartete Unterstützung von eben der Aufklärung,
die den alten untergraben hatte. Unmittelbar aus der Kritik
hervor wuchs die historische Weltanschauung. Da das ein
fache Hinnehmen der Überlieferung nicht mehr zulässig war,
so mußte ein Prinzip entdeckt werden, nach welchem die von
der Kritik übrig gelassenen disjecta membra der Tradition
wieder zu einem lebendigen Ganzen zusammengefügt werden
konnten. Dies Prinzip fand man in dem Gedanken des »Fort
schritts« der Menschheit, ein Gedanke, der mit dem acht
zehnten Jahrhundert aufkam und seit 1800 in breiter Front in
verschiedenen Formen die geistige Welt sich untertan machte.
Die Vergangenheit wurde dadurch dem Erkennen preisgegeben,
der Wille aber fühlte sich von ihr befreit und wandte sich der
Gegenwart und Zukunft zu; denn der Fortschritt ist für den
Willen eingespannt zwischen diese beiden.
Diese Richtung auf Gegenwart und Zukunft war nun auch
in der neuen Wendung, die der Glaube genommen hatte, an
gelegt. Wenn die Aufklärung die Gegenwart mit der Zukunft
durch das Vertrauen auf den Fortschritt verband und der Ein
zelne sich von der Gewißheit nährte, daß nur dieses Jahr