© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L43
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VI.
Jetzt erst bin ich im Stande das Verhältnis der Bilder zu der Legende
näher zu erörtern.
Wir haben gesehen dafs schon im zweiten Jahrhundert der Heiland
in Kunstwerken dargestellt wurde, wenn auch nicht häufig: und ohne Zweifel
haben bereits vorhandene Bilder Veranlafsung zu der Legende gegeben, nicht
sind sie, umgekehrt, erst aus der Legende hervorgegangen. Eusebius im vier
ten Jahrhundert kennt schon die wunderbare Heilung des Abgarus, aber die
übernatürliche Entstehung des Bildes war noch nicht in die Sage verflochten.
Zweifel an der Echtheit der vorhandenen Bilder konnte leicht durch die Be
trachtung erweckt werden, dafs keine menschliche Hand fähig gewesen sei
die Züge des Heilandes aufzufafsen. Ich finde diesen Gedanken noch bei
Wernher vom Niederrhein schön ausgedrückt sowol in dem jedesmaligen
Mislingen des Versuchs als in der Erklärung, die Christus darüber gibt, sein
Antlitz sei nur da bekannt, von wannen er sei gesendet worden. Hiermit
stimmt die Ansicht, die wir bei den älteren Kirchenvätern gefunden haben,
und die in der bilderstürmenden Zeit sich wirksam zeigte, wonach Christus
bei seiner irdischen Erscheinung keine bestimmte Gestalt gehabt hatte. Es
blieb also kein anderer Weg übrig um die Echtheit der Bilder zu retten und
gegen die, welche überhaupt Bilder verwarfen, zu schützen, als dafs man
eine übernatürliche Entstehung annahm, wobei die göttliche Kraft unmit
telbar wirkte.
Wie es scheint, waren imoveg ayßioozoiv\Toi vorhanden ohne dafs eine
Sage ihre übernatürliche Entstehung näher aufgeklärt hätte. Theophylactus
Simocatta, der im Anfänge des siebenten Jahi’hunderts lebte, und dem die
liistoria miscella folgt, gedenkt (lib. 2, cap. 3. und lib. 3, cap. 1.) eines nicht
von Menschenhänden gemachten Bildes, welches der Anführer Philippicus
vor der Schlacht mit den Persern im Jahr 589 dem Heer zeigte, um es damit
anzufeuern, und womit Priscus, der als Befehlshaber dem Philippicus folgte,
einen Aufruhr zu stillen suchte. Das Bild des Abgarus konnte es nicht sein,
denn das war damals noch nicht nach Constantinopel geführt, und dafs
es von Edessa in das Lager des Philippicus sei gebracht worden, ist eine ge
suchte Annahme Gretsers (cap.8). Ein anderes nicht von Menschenhänden