© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L77
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SPRACHEN 5
ihrem einflusz gebührende gerechtigkeit hinaus hat man sich allzulange 7
gewöhnt den maszstab griechischer und lateinischer sprachen an alle
übrigen zu legen, beinahe jede germanische slavische keltische eigen-
thümlichkeit zu verkennen und als blosze trübung jener lauteren quelle
anzusehn. wie wenig, für sich erwogen und den gehalt ihrer denk-
mäler redlichst angeschlagen, unsere sprachen jene mit vollem recht
classisch genannten erreichen; so hat in der geschickte alles, auch das
geringere sein recht und seinen reiz, und erst eine ernsthafte bekannt-
schaft mit den einheimischen angeblich neueren, an sich aber gleich
alten, der lateinischen oder griechischen blosz verschwisterten sprachen
und mit der frischen, unbillig verachteten roheit ihres alterthums unsern
forschungen, wenn sie von allen seiten her gedeihen sollen, die rechte
freiheit verliehen, da die spräche mit dem glauben, dem recht und
der sitte jedes volks von natur eng zusammenhängt, so werden dem,
der seinen fleisz diesen zuwendet, über die spräche seihst unerwartete
aufschlüsse daher entspringen.
Jeder spräche, welche sie auch sei, stehn auszer ihren heimi
schen Wörtern auch fremde zu, die der verkehr mit den nachbarn un
ausbleiblich einfuhrte und denen sie gastrecht widerfahren liesz. sie
nach langer niederlassung auszutreiben ist eben so unmöglich, als es
die reinheit der sprachsitte gefährdet, wenn ihr zudrang leichtsinnig
gestaltet wird, für die geschickte der sprachen leisten diese lehnwör-
ter guten dienst, weil sie hei ihrer Wurzellosigkeit leicht ins äuge fallen
und als ausnahme die regel der spräche, gegen welche sie sich allent
halben sträuben, hervorheben. Die einheimischen Wörter sind wiederum
doppelter art, je nachdem sich ihre Wurzel in kraft und fülle frisch
erhalten hat oder abgestorben ist und nur noch in einzelnen formen fort
dauert. jene regen wurzeln verleihen der spräche sinnliche stärke und ge
währen die günstigste entfaltung aller ihrer grammatischen eigenheiten;
in deutscher spräche wird sie durch das vermögen abzulauten kennbar.
Hiernach kann nun alle gemeinschaft zwischen sprachen theils auf
jenem zufälligen äuszeren anstosz beruhen, der hier und dort einzelnes 8
aus der fremde borgen liesz, theils auf einer langsam fortwirkenden
wesentlichen Urverwandtschaft, die vorhanden gewesen sein musz, als
die sprachen von einander sich abtrennend jede ihren eigenthümlichen
weg einschlugen, auf dem sie sich mehr oder minder entfremdeten,
als deutlichstes Zeichen solcher Urgemeinschaft werden einstimmige per
sönliche pronomina, Zahlwörter und das verbum suhstantivum anerkannt;
sie wird zumal in jenen lebendigen wurzeln, von welchen das innere
gewebe der spräche abhängt, vorbrechen, aber auch in einer groszen
zahl von abgestorbnen aufzusuchen sein, deren wahrer keim gerade in
der andern spräche liafLen kann. Bei Sprachvergleichungen überhaupt
glaube ich den grundsalz aufstellen zu dürfen, dasz zwischen den Wör
tern verschiedner Völker zwar gleichheit der buchstaben wie der begrilfe
obwalten, dennoch für jedes volk eigenlhümliche beziehung auf ihm ver
traute wurzeln, formen und Vorstellungen einlreten könne, nothwen-
digkeit und freiheit sind auch in den sprachen ewiges gesetz.